Kommentar: Was käme nach Assad?
1. November 2005Die Machtübernahme durch Präsident Baschar al-Assad im Jahre 2000 war für die Syrer mit großen Hoffnungen verbunden. Vor allem erhoffte man sich unter anderem eine konsequente Bekämpfung der Korruption und den Beginn eines Demokratisierungsprozesses, der den Weg zu freien Wahlen und zur Meinungs- beziehungsweise Pressefreiheit ebnen sollte. In den fünf Jahren seiner Amtszeit sind diese Hoffnungen jedoch auf der Strecke geblieben. Deshalb sind die Syrer heute unzufriedener mit ihrem Präsidenten als zuvor. Und daran ändert auch nichts, dass gewisse Reformschritte auf wirtschaftlicher Ebene unternommen wurden, da deren Auswirkungen durch fortgesetzte Stagnation im politischen Bereich begrenzt bleiben mussten.
Angst vor der "irakischen Lösung"
Trotz der Unzufriedenheit der Syrer mit dem Präsidenten Assad wollen die meisten von ihnen keine "irakische Lösung" haben. Das erklärt, warum sie Assad gegen die Drohungen der USA und Frankreichs unterstützen. Sie tun das nicht, weil sie keine Demokratie haben wollten, sondern aus Angst vor Anarchie. Diese Anarchie sehen sie in vielen Gegenden des Iraks - auch dort, wo die US-Armee das Sagen hat. Sie spiegelt sich nicht nur auf den Fernsehbildschirmen, sondern auch in den Augen und auf den Gesichtern vieler Iraker, die seit der amerikanischen Besetzung ihres Landes in Syrien Zuflucht suchen.
Die derzeitige amerikanische Regierung wirft dem Regime von Präsident Assad die Unterstützung des Terrors im Nahen Osten und die Beteiligung an der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri vor. Wenn es nach dem amerikanischen Präsidenten Bush beziehungsweise der amerikanischen Regierung ginge, sollte das Regime des Präsidenten Assad - und damit der syrische Staat - besser heute als morgen mit Sanktionen belegt und dieser abgesetzt werden. Im Falle von Sanktionen könnte dieser Sturz schnell passieren. Die Gründe dafür liegen sowohl in der Schwäche der syrischen Wirtschaft als auch im vergifteten politischen Klima. Die Frage aber muss lauten: Was kommt danach? Da es im Lande keine organisierte demokratische Opposition gibt, die die Macht ergreifen könnte, fürchten die meisten Syrer ein Chaos.
Mangel an demokratischer Kultur
Die Furcht wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass es im Lande keine Parteien mit politischer Kultur demokratischer Prägung gibt. Seit der Vereinigung Syriens mit Ägypten in der Zeit von 1958 bis 1961 unter Präsident Nasser wurden solche Parteien nicht mehr erlaubt. Andererseits fürchten viele Syrer auch im Falle von freien Wahlen unter heutigen Bedingungen eine Machtübernahme durch fundamentalistische islamische Kräfte. Der Einfluss dieser Kräfte, vor allem der Moslembrüder, verstärkt sich rapide in der syrischen Gesellschaft.
Das Scheitern des jetzigen Regimes bei der Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes im Allgemeinen und der jungen Generation im Besondern trägt die Hauptschuld daran. Eine Machtübernahme durch extremistische Kräfte hätte fatale Folgen für Syrien und den Libanon sowie für den ganzen Nahen Osten. Und das kann nicht im Interesse der Staatengemeinschaft dieser Erde sein, zumal die syrische Gesellschaft multiethnisch und multireligiös ist.
Obwohl Präsident Assads Regime auch in den Augen seines Volkes nicht demokratisch ist, sieht man ihn lieber als viele andere Herrscher, die die Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten genießen. Zumal sein Regime nicht auf religiöser Basis aufgebaut ist und auch den Frauen eine gewisse Rolle in der Gesellschaft eingeräumt wird. Es gibt nicht wenige Syrer, die ihn immer noch eher als Reformer ansehen, der aufgrund fehlender Unterstützung, von innen wie von außen, scheiterte.
Gewalt ist keine Hilfe
Der Weg zu politischen Änderungen in Syrien darf nicht mit Gewalt geebnet werden. Die internationale Gemeinschaft sollte Präsident Assad auffordern, die notwendige politische Öffnung schneller als bisher zu betreiben. Das bedeutet unter anderem die Zulassung demokratischer - aber nicht religiöser - Parteien und die Gewährleistung der Meinungsfreiheit.
Dabei bedarf Präsident Assad auch wirtschaftlicher Unterstützung. Unterstützung müssen auch die neu entstehenden demokratischen Parteien und Kräfte erhalten. Wenn das gelingt, kann Syrien in absehbarer Zeit auf demokratische Verhältnisse hoffen. Damit könnten auch jene "goldenen Zeiten" im Nahen Osten anbrechen, wie sie Präsident Bushs Visionen für diese Region entsprächen.
Etwas ganz anderes wäre es, wenn nachgewiesen würde, dass Präsident Assad persönlich in die Ermordung Hariris verwickelt ist. Wenn das der Fall wäre, wären er und sein Regime auch in den Augen der Syrer nicht mehr zu dulden. Die Alternative wäre ein "sanfter" militärischer Putsch, der demokratische Bedingungen schafft und freie Wahlen gewährleistet. Das wäre dem ansonsten entstehenden Chaos tausendfach vorzuziehen.