Kommentar: Wen Jiabaos Abschiedsauftritt
5. März 2013100 Minuten währte der letzte große Auftritt von Wen Jiabao als Chinas Ministerpräsident. Gemäß traditionellem Ablauf eröffnete er mit seinem Rechenschaftsbericht die diesjährige Sitzung des Nationalen Volkskongresses, des chinesischen Scheinparlaments. Dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte – Wen trug bei seiner Abschiedsvorstellung die klassische Uniform Pekinger Parteifürsten. Inhaltlich gab es ebenfalls Bekanntes: Etwa den Militäretat. Der steigt wie bereits in den vergangenen Jahren stärker als der Gesamtetat, diesmal um knapp elf Prozent.
Chinas Kommunistische Partei zieht einen Teil ihrer Herrschaftslegitimation aus dem Anspruch, Garant der Souveränität Chinas und seiner territorialen Integrität zu sein. Der Ausbau der Streitkräfte soll zudem Symbol für das Wiedererwachen der nationalen Stärke sein. Und im Inselstreit mit den Nachbarn im Südchinesischen Meer oder mit Japan um die Diaoyu- beziehungsweise Senkaku-Inseln lässt sich mit nationalistischen Tönen von inneren Schwierigkeiten ablenken.
Kritik am Wachstumsprimat
Besonders interessant an Wens Rechenschaftsbericht sind die selbstkritischen Töne zum chinesischen Entwicklungsmodell. Chinas Wachstum sei nicht ausbalanciert, unkoordiniert und nicht nachhaltig. Damit hat Wen seinen Finger in eine klaffende Wunde gelegt: China hat für sein rasantes Wirtschaftswachstum einen hohen Preis gezahlt. Die Umweltsituation ist katastrophal. Und die Einkommensschere zwischen arm und reich, aber auch zwischen den Küstenregionen im Osten und den Binnenregionen im Westen, hat bedrohliche Ausmaße angenommen.
Insgesamt hat Wen in seinem Rechenschaftsbericht den Schwerpunkt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung gelegt. Und er hat eine erfreulich klare Sprache verwendet. Phrasen wie etwa "Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken" nahm er nur selten in den Mund.
Wen Jiabao hat wie schon öfter in der Vergangenheit die richtigen Themen angesprochen. Die Frage ist nur: Was hat er als Ministerpräsident getan, um etwa das Wachstum nachhaltiger zu gestalten? Oder um gegen die Ursachen der allgegenwärtigen Korruption vorzugehen? Ursachen, die etwa darin bestehen, dass es keinerlei Gewaltenteilung gibt, dass die KP und ihre Funktionäre über dem Gesetz stehen.
Angekratztes Image
Vielleicht ist Wen Jiabao eine tragische Figur. Als einziger in der Parteiführung hatte er das Wort von politischen Reformen überhaupt in den Mund genommen. Nur: Passiert ist nichts. Eher noch wurden die Zügel der Herrschaft in den letzten Jahren weiter angezogen. Ob Wen echten Reformwillen hatte und sich einfach nicht durchsetzen konnte im allmächtigen Politbüro? Da Chinas KP ihre Entscheidungen hinter dicht verschlossenen Türen trifft, wird man das vielleicht nie erfahren.
Im Alltag hat Wen sich stets als Mann der kleinen Leute inszeniert. Und als Krisenmanager: Etwa beim Ausbruch der SARS-Pandemie vor zehn Jahren, bei der Erdbebenkatastrophe in Sichuan im Frühjahr 2008 oder auch bei dem Unglück eines Hochgeschwindigkeitszuges 2011. Es gefiel ihm, dass die Menschen ihn "Papa Wen" nannten.
Im letzten Herbst allerdings bekam dieses Image einige hässliche Kratzer. Die "New York Times" berichtete, Mitglieder seines weitläufigen Familienclans hätten in der Amtszeit von Wen ein Vermögen von über zwei Milliarden Dollar angehäuft. Zwar wurde die Webseite der Zeitung in China daraufhin gesperrt. Und das Dementi Wens wurde nur in Hongkong veröffentlicht, während in China selbst das Milliardenvermögen der Familie in den Medien nie thematisiert wurde. Und doch sprach diese Nachricht sich unter der Bevölkerung schnell herum.
Vielleicht war Wen eben doch der "größte Schauspieler Chinas". So hatte der Schriftssteller Yu Jie 2010 ein Buch über Wen Jiabao betitelt. Jetzt hatte Wen Jiabao seine Abschiedsvorstellung.