Wer rettet Großbritannien?
Falls Sie es verpasst haben sollten: Großbritannien steckt in einer politischen Krise epischen Ausmaßes. Lassen wir das Brexit-Debakel für einen Moment beiseite, obwohl seine Verflechtungen mit dem Drama, das sich vor unseren Augen entfaltet, so vielfältig sind.
Stellen Sie sich einfach vor, Sie leben in einem Land, in dem die Führungsfiguren der wichtigsten politischen Parteien jeden Sinn für Anstand und Verantwortung verloren haben. Das Prinzip, das Interesse des Landes höher zu gewichten als die eigenen politischen Vorteile, ist ihnen abhanden gekommen. Wir sprechen hier nicht von einem gescheiterten Staat (obwohl es durchaus Argumente in diese Richtung gäbe), sondern über die aktuelle Lage Großbritanniens.
Als der Oberste Gerichtshof die Zwangspause des Parlaments für rechtswidrig erklärte, reagierte Premier Boris Johnson wie ein bockiges Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug wegnimmt. Er machte keinen Hehl aus seiner Missachtung und Geringschätzung für dieses Urteil.
Ein völlig ungeeigneter Premier
Boris Johnson ist einfach nicht für das Amt geeignet. Sein Auftreten und die wütenden Szenen im House of Commons am Mittwoch wirkten geradezu irreal. Von Anstand, Würde und Beherrschung keine Spur. Er besudelte die Erinnerung an die Labour-Abgeordnete Jo Cox, die eine Woche vor dem Referendum im Frühsommer 2016 von einem Rechtsextremen ermordet wurde, indem er sagte, man würde sie am meisten ehren, wenn man den Brexit nun endlich durchziehe. Das ist eiskalt und niederträchtig.
Die aggressive und aufrührerische Sprache auf beiden Seiten ist schändlich und gefährlich. Mehrere Abgeordnete, die für einen Verbleib in der EU sind, berichten von Morddrohungen.
Als wäre das alles nicht schlimm genug, stürzt Labour, die wichtigste Oppositionspartei (obgleich die Liberal Democrats das mittlerweile anders sehen könnten) in die politische Vergessenheit. Und das zu einer Zeit, in der das Land eine klare und kraftvolle Alternative zu einer Regierung braucht, die vor dem Kollaps steht.
Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn bewies bei jeder einzelnen Wendung des Brexit-Dramas seine Unentschlossenheit. Viele Labour-Mitglieder bleiben ihm zwar weiterhin treu, aber die Wähler aus ganz Großbritannien werden nicht so nachsichtig sein. Sein Plan: Er möchte dafür sorgen, dass ein No-Deal-Brexit vom Tisch kommt, danach will er eine Wahl gewinnen und später eine Sonderkonferenz organisieren, auf der entschieden wird, wofür sich Labour in einem zweiten Referendum einsetzen soll. Ein weiterer Aufschub, noch mehr Unschlüssigkeit.
Ein Land am Rande des Abgrunds
Johnson und Corbyn sind beide unhaltbar. Sie repräsentieren alles, was in der heutigen britischen Politik schiefgelaufen ist.
Eine besondere Erwähnung gebührt natürlich Johnsons Vorgängern, denn sie haben die Weichen gestellt für das schreckliche Durcheinander, in dem Großbritannien jetzt steckt: David Cameron und Theresa May. Der Erste spielte eine riskante Poker-Partie und verlor. Die Zweite nahm die Karten, die ihr gegeben wurden, und schuf noch mehr Verwirrung, Spaltung und Betrug.
Der Verlust einer ausgewogenen politischen Debattenkultur, das Fehlen von Führungsqualitäten und die tiefe Spaltung des Landes haben eine prekäre Lage für das Vereinigte Königreich geschaffen. Manche mögen behaupten, Großbritannien habe schon Schlimmeres überlebt (Weltkriege, Wirtschaftskrisen usw.). Doch das waren andere Zeiten, andere Umstände. Und damals hatte das Land Führungsfiguren, die dieser Bezeichnung gerecht wurden.