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Wir alle sind die Republik!

Barbara Wesel, Paris11. Januar 2015

Es war nicht nur ein Trauermarsch, sondern eine Demonstration der Solidarität in Paris. Doch bei aller Freude über den Zusammenhalt, erst die Zukunft wird zeigen, ob dieser von Dauer ist, meint Barbara Wesel.

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Ausgestreckter Arm mit Stift (Foto: Reuters/Gaillard)
Bild: Reuters/Gaillard

Man kann die Franzosen um diesen Tag fast beneiden, denn es war eine machtvolle Demonstration. Sie haben nach den blutigen Ereignissen der vergangenen Woche eine bewunderswerte Bindung an ihre Geschichte und ihre Werte gezeigt, an ihre Nation und deren Ideale. Dieser Marsch von mehr als 1,5 Millionen Menschen in Paris - und etwa 2 Millionen bei Demonstrationen im Rest des Landes – war ein starkes Bekenntnis zur Demokratie, gegen Gewalt und gegen die Angst. Die Menschen wollen sich nicht einschüchtern lassen von Terrortaten, und sie wollen sich vor allem nicht nehmen lassen, was ihnen besonders wichtig ist: Die Meinungsfreiheit. Sie gehört zu den urfranzösischen Traditionen, zum besonderen Esprit des Landes. Auch extreme Meinungen dürfen ausgedrückt werden, und im Widerstreit der Auffassungen beweist sich die Demokratie, so das Prinzip.

Große Solidarität - zuweilen komisch anmutend

Staats- und Regierungschefs aus über 40 Ländern waren nach Paris gekommen, um durch ihre Teilnahme Solidarität mit Frankreich zu bekunden, und sie wurden mit besonderem Applaus begrüßt. Dabei war der Auftritt etwa des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu Seite an Seite mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nicht ohne Ironie. Beide zeigten sich zum ersten mal gemeinsam auf einer Demonstration, aber Netanjahu nutzte die besondere Stunde nicht etwa zu einer Friedensgeste. Stattdessen forderte er die Juden in Frankreich auf, sie sollten doch nach den Geschehnissen in Paris lieber nach Israel auswandern. Und was mag der russische Außenminister Lawrow gedacht haben, als er in einer Reihe mit dem Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko, für Freiheit und Demokratie marschierte? Das kann man absurd oder komisch finden, je nach Gemütslage.

Barbara Wesel (Foto: DW)
DW-Reporterin Barbara WeselBild: Georg Matthes

"Die Welt erhebt sich", titelten die französischen Sonntagszeitungen, nicht ohne einen gewissen Stolz darauf, sich an diesem Tag im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit zu sehen. Denn die Franzosen suchen derzeit Bestätigung und Unterstützung von außen. Sie sehen sich in vorderer Front bei der Verteidigung demokratischer Grundwerte und sind dabei doch unruhig, weil sie wissen, dass die Bedrohung durch hausgemachte Terroristen weiter lauert. Ähnlich wie im benachbarten Großbritannien hat sich in Frankreich ein Untergrund des radikalisierten Islam in den ghettoartigen Vorstädten gebildet, der sich der Kontrolle zu entziehen scheint.

Republik als gemeinsame Identität

Es gab viele bewegende Zeichen der Humanität und des Bürgersinns in diesen Tagen - Demonstranten trugen Schilder mit der Aufschrift "Ich bin Charlie Hebdo, ich bin Polizist, ich bin Jude", um an die Gemeinsamkeit der Opfer als Menschen zu erinnern. Und allgegenwärtig waren die Bekenntnisse zur französischen Republik als gemeinsame Identität.

Aber nach diesen Momenten der Erhebung folgen die Mühen der Ebene. Politischer Streit war bis zu diesem Sonntag ausgesetzt – er wird wiederkehren, die Lager werden mit Schuldzuweisungen aufeinander losgehen und versuchen, aus den Ereignissen Kapital zu schlagen. Was dabei vor allem beginnen muss, ist eine ehrliche Debatte über die Lebensbedingungen der Zuwanderer aus den Ländern Nordafrikas. Frankreich steht heute vor den Versäumnissen von Jahrzehnten: Zerfallende Vorstädte von betonierter Brutalität, miserable Schulen, eine Jugend ohne Chancen und Aussichten, die sich nicht wirklich als Teil dieser Republik sieht und derart menschenunwürdige Gefängnisse, dass sie schon lange Brutstätten der Radikalisierung sind.

Frankreich würde ein gewaltiges Reformprogramm brauchen, um das Leben von ein paar Millionen Franzosen mit Migrationshintergrund nachhaltig zu verbessern. Allerdings dürfte eine erstarkende politische Rechte dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt. Am Ende der bewegenden und großen Worte der vergangenen Tage wird vermutlich einmal mehr eine verpasste Chance stehen.