Kosmos analoger Klangwelten
16. August 2014Ein Mann sitzt vor einem riesigen Mischpult im Studio. Sinniert, lässt Klänge in seinem Kopf nachklingen, überdenkt die Musik, die er eben von der analogen Tonbandmaschine abgespielt hat. Hinter ihm türmen sich verstaubte Tonbandreste auf runden "Bobbys", wie man früher die Metallkerne für die Tonspulen im Studio genannt hat. Sie allein könnte man schon im Museum ausstellen: Relikte aus einer längst vergangenen Zeit. Heute generiert ein Komponist staubfrei und sauber Klänge im Computer, schneidet, komponiert in digitalen Schnittprogrammen, entwirft Klangwelten und Sounds, statt mit der Schere "pieces of real music" herzustellen.
Versunkene Klangwelten
Eugeniusz Rudnik ist aus einer anderen Welt, aus der Welt der analogen Musikproduktion. Die richtige Bezeichnung für ihn zu finden ist nicht einfach: zu komplex ist das, was er in seinem grauhaarigen Kopf an Klangwelten denkt und vorproduziert: Komponist, Ton-Ingenieur, Elektroniker, Soundproduzent, Klangkünstler - alles ist nur ein Bruchteil seiner Arbeitswelt, die die polnische Filmemacherin Zuzanna Solakiewicz in einem poetischen Dokumentarfilm eingefangen hat. Mit der Kamera begleitet sie ihn bei seiner tagtäglichen Arbeit in einem winzigen Produktions-Studio unter dem Dach von Radio Warschau. Mit 82 Jahren ist er längst pensioniert, aber das Studio ist seine Welt, die Musik sein Lebensinhalt. Und man lässt ihn. Er gehört längst mit zur musealen Ausstattung.
15 Corners of the World" heißt der beeindruckende Dokumentarfilm, der vom Festival für das Programm der "Woche der Filmkritik" jetzt als "Bester Film" in der Kategorie "woche der Kritik" ausgezeichnet wurde. Ein hochspannender, künstlerischer Film - teils Reportage, teils Videokunst - der den Zuschauer in längst vergessene Klangwelten der frühen elektronischen Musik entführt. In den 50er Jahren die absolute Avantgarde, heute Musikgeschichte.
Anders als bei Dokumentar-Filmen üblich, folgt die Regisseurin von vornherein konsequent der Musik. Zuerst wurde die Tonspur geschnitten und erst danach die dazu passenden Bilder gedreht: Kameramann Zvika Gregory Portnoy hat kongeniale bildliche Übersetzungen von Rudniks abstrakter Musik gefunden: strukturelle Muster, elektrische Drähte, Waldwege, Linien auf nackter Haut. Eine ungewöhnliche Herangehensweise. Aber Rudniks elektronische Musik ist einfach zu stark, zu eigenwillig, als dass sie sich einem Bilderteppich unterordnen würde, erzählt Regisseurin Zuzanna im DW-Gespräch.
Kreativzentren der Avantgarde
Wie ein Raumschiff aus prähistorischen Kinozeiten der 50/60er Jahre, das zu Beginn des Films mit Getöse landet, weckt die futuristische Musik Rudniks Assoziationen an den Sound-Kosmos der frühen Science-Fiction-Filme. Galaktische Klänge, bizarr, manchmal abgehackt oder und monoton abstrakt - produziert mit Endlosschleifen aus Tonband, die quer durch den Raum gespannt sind. Rudnik hat seine Techniken der Verfremdung selbst entwickelt und nie einen Computer benutzt. In seiner Musik, deren Titel wie kleine poetische Kunststücke klingen, macht er Seelenräume auf.
Elektronische Klangräume, wie sie die Komponisten-Avantgarde in Deutschland und den USA bereits in den frühen 50er Jahren entwickelt hat: John Cage, Mauricio Kagel, Karlheinz Stockhausen - mit ihnen hat Rudnik viel zusammengearbeitet. Köln, Paris, New York und Warschau waren die kreativen Zentren dieser neuartigen Musikströmung, die Musikgeschichte geschrieben hat. Rudnik gehörte zu den frühen tontechnischen Pionieren.
In Köln, in Freiburg, in Baden-Baden, überall in den Radiosendern in Deutschland experimentierten damals Komponisten mit Klängen, Soundscapes und Originaltönen. Die abstrakte Musik eroberte sich in Windeseile die Studios für elektronische Musik, wie zur gleichen Zeit die abstrakte Kunst die Museen der Welt. Eugeniusz Rudnik war überall dabei: mal als technischer Berater und Toningenieur, der die Ideen der Komponisten in reale Klänge übersetzte. Mal als "Kompositeur" an der Tonmaschine, der die Tonbänder mit Überblendungen und neuartigen Klangkompositionen zur neuartigen akustischen Kunstwerken machte. Noch heute lebt er in dieser Klangwelt. Experimentiert weiter in seinem Studio, sucht mit sympathischer Ernsthaftigkeit nach der Vervollkommnung seiner Ideen. Die Kamera folgt ihm: unaufdringlich, Distanz wahrend, mit einfühlsam beobachtenden Bildern.
Zwischen Laboratorium und Werkstatt
Die Studios früher waren eine Mischung aus Werkstatt und Klanglaboratorium: hier wurde gebastelt, probiert, verworfen, wurden Klänge elektronisch verfremdet und neu zusammengesetzt. Ganze Kompositionen wanderten - vom "Bobby" gedrückt - in den Mülleimer. Analog musste man komplett von vorne anfangen, eine "Reset-Taste" gab es nicht. Aber das was am Schluss dabei raus kam, war futuristisch, sprengte alle Grundregeln der klassischen Kompositionslehre. Dabei sind Rudniks Klangwelten der Elektro-Musik der heutigen DJs nicht unähnlich: raue leicht monotone, vom Rhythmus getriebenen Soundteppiche, durchbrochen von Assoziationsklängen: "Berlin Calling" von DJ Paul Kalkbrenner hätte auch in seinem analogen Studio entstehen können.
Die polnische Regisseurin Zuzanna Solakiewicz (Jahrgang 1978) hat in Warschau studiert und in Israel an der Sam Spiegel Film & TV School Jerusalem das Filmemachen gelernt. Beim Schnitt ihres Films ist sie nur ihrer Assoziation gefolgt und keinem festen Drehbuch. Und war überrascht über die menschliche Wärme dieser abstrakten elektronischen Musik: "Ich hätte niemals gedacht das elektronische Musik derart die menschliche Seele berühren kann," erläutert sie im DW-Interview. Und so taucht man ein in den Strom dieser elektronischen Klangfluten und landet nach kurzweiligen 78 Minuten wieder in der Realität eines Kinosaals - mit den Bildern im Kopf und dem Sound im Ohr. Hörend hat man Musik gesehen, den visuellen Fährten der Filmemacherin folgend, ohne die Musik von Rudnik aus dem Blick zu verlieren. Das ist viel für einen Dokumentarfilm, für die Jury auf dem Filmfestival Locarno preiswürdig.