Kosovo: Präsident vor Sondertribunal
6. November 2020Kosovo ist im politischen Ausnahmezustand. Mehrere der wichtigsten und bekanntesten Politiker in Europas jüngstem Staat, allen voran Präsident Hashim Thaçi, wurden binnen eines Tages - am diesem Donnerstag - vom Kosovo-Sondertribunal in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagt. Staatschef Thaçi trat mit sofortiger Wirkung zurück, weil er, so seine Begründung, nicht "als Präsident" vor dem Sondergericht in Den Haag auftreten wolle.
Weitere Angeklagte sind neben Thaçi auch der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kosovos (PDK), Kadri Veseli, der ehemalige Parlamentsvorsitzende Jakup Krasniqi sowie der Fraktionsvorsitzende von Vetëvendosje (Selbstbestimmung), der größten Partei im kosovarischen Parlament, Rexhep Selimi. Thaçi, Veseli, Krasniqi und Selimi waren hochrangige Mitglieder der ehemaligen Befreiungsarmee Kosovos (UÇK), die während des Kosovo-Kriegs 1998/99 gegen die serbische Armee kämpfte. Ihnen wird vorgeworfen, Kriegsverbrechen begangen oder sie angeordnet zu haben, darunter Ermordung, Folter, Verfolgung und unmenschliche Behandlung von Kriegsgefangenen.
"Ich werde nicht als Präsident vor Gericht stehen und möchte die Integrität Kosovos schützen", sagte Thaçi nach Bekanntgabe der Anklage. "Deshalb trete ich heute vom Amt des Staatspräsidenten Kosovos zurück." Er werde mit der Justiz zusammenarbeiten und stelle sich ihr, sagte Thaçi, bevor er sich zum Hauptquartier der EU-Rechtsstaatsmission EULEX in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina begab. Inzwischen ist Thaçi in Den Haag eingetroffen.
Sondertribunal auf Druck der internationalen Gemeinschaft
Die Anklage gegen ihn und die anderen kosovarischen Politiker wurde am Donnerstag bestätigt und später auch veröffentlicht. Bereits im Juni hatte der Chefankläger des Kosovo-Sondertribunals, Jack Smith, bekannt gegeben, dass Thaçi und den anderen drei Angeklagten vorgeworfen wird, an rund 100 Morden beteiligt gewesen zu sein. Eine offizielle Bestätigung der Anklage stand damals allerdings noch aus. Alle Angeklagten weisen die Anschuldigungen als unbegründet zurück.
Das Kosovo-Sondertribunal in Den Haag wurde 2016 auf Druck der internationalen Gemeinschaft eingerichtet. Es ist juristisch Teil der kosovarischen Justiz, allerdings ausschließlich mit internationalen Richtern und Staatsanwälten besetzt, um eine größere Unabhängigkeit der Strafverfolgung zu gewährleisten. Das Tribunal soll Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Vertreibungen untersuchen, die zwischen Anfang Januar 1998 und Ende Dezember 2000 in Kosovo stattgefunden haben.
Präsident Thaçi hatte das kosovarische Parlament ursprünglich selbst dazu gedrängt, für die Einrichtung des Sondertribunals zu stimmen. Seine politischen Gegner werfen ihm allerdings vor, damit nur seine persönlichen Interessen zu verfolgen und nicht an einer Aufklärung von Verbrechen im Kosovo-Krieg, die von UÇK-Mitgliedern begangen wurden, interessiert zu sein. Thaçi hatte dem Druck der internationalen Gemeinschaft damals nachgegeben.
Der damalige Oppositionsführer Albin Kurti bemängelte, das Sondertribunal sei nur für die Verbrechen der UÇK zuständig und nicht für die der serbischen Militärs und der serbischen Geheimdienste gegen Kosovo-Albaner. Allerdings wurden einige Verbrechen des serbischen Staates während des Kosovo-Kriegs vor dem inzwischen geschlossenen Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) verhandelt. Während des Kosovo-Kriegs wurden mehr als 13.000 Menschen getötet, die meisten von ihnen von serbischen Kräften.
Verstrickung in Organhandel?
Als wichtiger Anstoß für die Bildung des Kosovo-Sondertribunals gilt der sogenannte Marty-Bericht. Unter der Leitung des Schweizer Staatsanwalts Dick Marty legte eine Kommission des Europarats 2011 einen Bericht vor, in dem UÇK-Führer wie Thaçi, Veseli und andere in Verbindung mit mutmaßlichen Kriegsverbrechen gegen Serben, Roma und Albaner gebracht werden. "Organhandel" war einer der schwersten Vorwürfe in dem Bericht. Demzufolge soll unter anderem Hashim Thaçi in die Tötung von Kriegsgefangenen und den Verkauf ihrer Organe verwickelt gewesen sein. Thaçi bestreitet die Vorwürfe immer wieder vehement. Auch ist bis heute keiner der Beschuldigten wegen des "Organhandels" angeklagt. Allerdings ist die Anhörung von rund 200 Personen zu den Vorwürfen noch nicht abgeschlossen, eine Anklageerhebung in diesem Punkt kann noch erfolgen.
Hashim Thaçi war einst der politische Führer der UÇK und nach dem Krieg einer der wichtigsten Politiker Kosovos. Der heute 52-Jährige amtierte als Außenminister, Premierminister und schließlich Präsident des jüngsten Staates in Europa. Den 2005 begonnenen Dialog zwischen Kosovo und Serbien prägte er entscheidend mit. 2013 unterzeichnete er gemeinsam mit dem damaligen serbischen Premierminister Ivica Dačić das sogenannte "Brüsseler Abkommen" für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien. Umgesetzt wurden wichtige Teile des Abkommens bisher nicht. Mehrfach setzten Belgrad und Prishtina ihren Dialog für längere Zeit aus, derzeit läuft er äußerst schleppend.
Während Thaçi sich in den vergangenen Jahren als Friedensstifter präsentierte, schwebten zugleich die Vorwürfe aus dem Marty-Bericht wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf. Im Hintergrund versuchte der ehemalige UÇK-Führer offenbar immer wieder zu erreichen, dass eine Anklage gegen ihn wegen Kriegsverbrechen fallengelassen werde. Kosovarische Kritiker warfen ihm deshalb vielfach vor, dass er dafür auch wichtige politische Interessen seines Landes geopfert habe. Nun steht fest, dass Thaçi sich vor Gericht verantworten muss.
Keine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen
Sein Fall zeigt stellvertretend die Schwierigkeiten Kosovos im Umgang mit der eigenen Kriegsvergangenheit. Die offizielle Linie im Land lautet, dass der Krieg der UÇK gegen die serbischen Unterdrücker legitim und sauber gewesen sei, Kriegsverbrechen habe es nur in wenigen, von der UÇK nicht gedeckten Einzelfällen gegeben. Eine echte Debatte darüber, wie tief die UÇK in Kriegsverbrechen verstrickt ist, hat bisher nur zögerlich stattgefunden.
Wer das Thema anspricht, gilt als Verräter, wie das Beispiel des Politologen und Publizisten Shkelzen Gashi zeigt. Als er im April dieses Jahres in einem Interview von der Verwicklung einiger UÇK-Führer in Kriegsverbrechen sprach, erhielt er massive Todesdrohungen; der damalige Premierminister Albin Kurti entließ ihn als Berater. Umgekehrt werden verurteilte Kriegsverbrecher in Kosovo häufig als Helden des Freiheitskampfes gefeiert und erhalten wichtige staatliche Posten.
Auch Serbien trägt durch die Leugnung der eigenen Kriegsverbrechen entscheidend dazu bei, dass die Debatte um die Kriegsvergangenheit in Kosovo bisher ausbleibt. Erst kürzlich hatte der ehemalige serbische Außenminister und derzeitige Parlamentspräsident Ivica Dačić indirekt gefordert, dass diejenigen Serben, die Kriegsverbrechen gegen Albaner aufdecken und Hinweise auf Orte mit Massengräbern von Ermordeten geben, Verräter seien und bestraft werden müssten.
Unter diesen Umständen ist es eher wenig wahrscheinlich, dass sich Kosovos politische Elite einer Debatte um die eigene Kriegsvergangenheit stellt. Sicher ist hingegen, dass Hashim Thaçis Abgang aus der politischen Szene Kosovos eine große Krise auslöst. Die Parlamentsvorsitzende Vjosa Osmani hat inzwischen das Präsidentenamt vorübergehend übernommen. Spätestens in sechs Monaten muss das Parlament ein neues Staatsoberhaupt wählen. Allerdings gibt es im kosovarischen Parlament keine klaren Mehrheitsverhältnisse. Die Regierung verfügt nur über eine knappe und sehr wackelige Mehrheit. Beobachter gehen deshalb davon aus, dass die kosovarische Regierung bald stürzen könnte und Neuwahlen ausgeschrieben werden.