1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Krach und Widerstand: Eine Begegnung mit der Türkei

Rick Fulker24. September 2014

Die Uraufführung von "Tableaux Vivants d’une Résistance" (Lebende Bilder eines Widerstands) begeisterte das Publikum. Das Bilkent Youth Symphony Orchestra gab Tolga Yayalars Werk authentisch wieder.

https://p.dw.com/p/1DJV4
Beethovenfest 2014 Orchstercampus
Bild: Barbara Frommann

Ein diffuser Streicher-Klang entsteht aus dem Nichts und steigert sich langsam. Ergreifend zarte und leise Momente gehen nahtlos in ängstliche Ausbrüche über. Klangfarben, Bewegungen, Strukturen, aufsteigende und seufzende Motive entfalten sich. Es gibt einen Knall, später eine Polizeisirene. Cellos und Geigen geben eine leise Andeutung von Konsonanz wieder, den zaghaften Versuch einer tief melancholisch gefärbten Melodie. Nach etwa zwanzig Minuten verschwindet der Klang so wie er begonnen hat, den letzten Ton nur leise ausgehaucht.

In der bis auf den letzten Platz besetzten Beethovenhalle verfolgte Tolga Yayalar das Geschehen und nahm zum Schluss die starken Ovationen des Publikums entgegen. Den Auftrag zum Werk erhielt der in Istanbul geborene Komponist von der Deutschen Welle, die im 15. Jahr in Folge den Orchestercampus in Zusammenarbeit mit dem Beethovenfest ausrichtete.

Beethovenfest 2014 Orchstercampus
Viel Lob für Tolga Yayalar (rechts im Bild) beim Orchestercampus 2014Bild: Barbara Frommann

Analyse des Krachs

Das Werk ist unter dem Eindruck der Gezi-Park Proteste in Istanbul im Juni 2013 entstanden und verarbeitet sie musikalisch. Es geht darin auch um Krach, Unruhe und lärmendes Chaos. "Wir leben in der Post-John-Cage-Welt", sagte Yayalar und wies damit auf den amerikanischen Komponisten hin, der jeden Klang – auch Straßenlärm – als Musik beschrieb.

Im Ergebnis waren die "Tableaux Vivants d’une Résistance" jedoch nicht sperrig sondern ergreifend: Tolga Yayalar überfordert das Ohr nicht. Der an der Harvard University (USA) promovierte Tonschöpfer und Musikprofessor an der Bilkent Universität in Ankara beherrscht nicht nur das Orchesterhandwerk. Yayalar verbindet westliche Zwölftontechnik und Jazz mit Mikrotonalität, die aus seiner Auseinandersetzung mit der arabischen Musik entstand.

Protest als Anfangspunkt

Die jungen Musikerinnen und Musiker des Bilkent Youth Symphony Orchestra aus Ankara gaben das Werk im dritten und letzten Jahr des Projekts "Beethoven ile bulusma" (Begegnung mit Beethoven) äußerst authentisch wieder. Authentisch, weil der Ausgangspunkt – die Gezi-Park Proteste – vor allem von jungen Menschen getragen wurde. Der Aufstand gegen das Regierungssystem des damaligen türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdoğan führte zu den größten bürgerlichen Unruhen in der Geschichte des Landes. Erst nach mehreren Monaten ebbten die Proteste ab. Mehr als 3,5 Millionen Menschen nahmen an rund 5000 Protestaktionen teil, fünf Menschen kamen ums Leben, Tausende wurden verletzt.

"Ich musste reagieren", sagte Tolga Yayalar, der zunächst sechs "Tableaux" komponieren wollte. "Es schien mir alles so sinnlos." Er fand jedoch seine ersten Klänge "zu buchstäblich" und vereinfachte sie im Verlauf des Schöpfungsprozesses. "Er bleibt bei der Musik", stellte Beethovenfest-Intendantin Nike Wagner fest und erklärte anschließend: "Der richtige Komponist wurde gefunden." Der Orchestercampus sei, so Wagner, ein wichtiger Baustein des Beethovenfests. "Seine Fortsetzung liegt mir am Herzen."

Beethovenfest 2014 Orchstercampus
Junge Musikerinnen und Musiker des Bilkent Youth Symphony OrchestraBild: DW/B. Özay

Verbrüderung der Menschen

Yayalars Werk hatte im Konzert ein gewichtiges Gegenstück: nichts Geringeres als Beethovens Neunte Sinfonie. Vom ersten Ton an kam vom Jugendorchester ein sehr robuster Klang. Isin Metin, der das Orchester seit 2005 leitet, trieb die Instrumentalisten voran, auch im zweiten Satz, einem kreisenden Tanz in atemberaubendem Tempo. Im Finalsatz hielt er gigantische Kräfte zusammen als der Beethoven-Projekt-Chor der Kreuzkirche Bonn hinzu kam. Je zwei türkische und zwei deutsche Sänger übernahmen die Solistenparts. Besonders nennenswert: der türkischstämmige Bass-Bariton Selcuk Cara. Beethovens Botschaft "Alle Menschen werden Brüder" kam unmissverständlich an.

Im Campus-Projekt erleben junge Musikerinnen und Musiker aus dem Ausland das Bonner Leben, wohnen bei Gastfamilien und geben in Konzerten in Bonn und Berlin ihre Sicht auf Beethoven wieder. Das 110 Mitglieder umfassende Jugendorchester aus Ankara steht für die weltoffene und dem Westen zugewandte Seite der vielschichtigen, auch zerspaltenen türkischen Kultur. Vor 20 Jahren gegründet, besteht es aus Vertretern aller Jugendorchester des Landes. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, Schirmherr des diesjährigen Orchestercampus, nannte diesen einen "wichtigen Beitrag zum Ausbau der kulturellen Kontakte mit der Türkei".

Orchestercampus 2014
Tolga Yayalar bei der DW-Pressekonferenz zum Orchestercampus am 19.9.2014Bild: DW/M. Müller