Krank auf dem Balkan - cash oder warten
28. April 2018"Das können wir privat erledigen." Der magische Satz fällt immer wieder und auch Nataša bekommt ihn zu hören, als sie einen Untersuchungstermin im Krankenhaus vereinbaren will. Die 30-Jährige aus der nordserbischen Stadt Novi Sad hat gerade ein Tumorleiden im Lymphsystem hinter sich und eigentlich keine Zeit zu verlieren. Sie hat aber auch kein Geld, um "privat" - also außerhalb des staatlichen Krankenversicherungssystems - für Untersuchungen zu bezahlen. Deswegen bringt der Zettel nicht viel, den ihr die Ärztin in die Hand drückt - ein Werbe-Flyer einer privaten Praxis.
Die meisten Menschen in den Balkanländern, die einst das sozialistische Jugoslawien bildeten, sind wie Nataša auf das staatliche Gesundheitssystem angewiesen. In Serbien, Bosnien oder Mazedonien, in denen die monatlichen Durchschnittslöhne bei 400 Euro netto und die Arbeitslosenquote über 20 Prozent beträgt, ist "private" ärztliche Untersuchungen, die man aus eigener Tasche bezahlt, ein Luxus. Diesen Schritt gehen die meisten nur in höchster Not, wenn die lange Warterei auf einen Termin zu riskant wird. Oder wenn man viel Geld hat.
Keine Spritzen und Nadeln
"Meine Tochter erkrankte an Diabetes als sie 16 Monate alt war. Mehr als sechs Jahren lang haben wir auf eine Insulinpumpe gewartet", sagt Mirela Šišić, die einer Patientenvereinigung in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo vorsteht. Der DW berichtet sie, dass die Krankenhäuser oft nicht mal die Grundmedikamente haben, obwohl diese eigentlich durch die Krankenversicherung gedeckt sein sollten. Das, was dennoch nicht da ist, müssen sich die Bürger dann selber an in der Apotheke zum Vollpreis kaufen.
Die staatliche Krankenkasse stelle chronisch zu wenig Finanzmittel zur Verfügung, behauptet ein Insider, der jahrelang verschiedene Krankenhäuser in Serbien geleitet hat. "So hat man dann in der zweiten Jahreshälfte weder Spritzen und Nadeln, noch Desinfektionsmittel. Von Ersatzteilen für defekte Röntgenapparate ganz zu schweigen", sagte er der DW mit der Bitte, seinen Namen nicht zu erwähnen. Inzwischen arbeitet er für ein privates Krankenhaus, das all diese Probleme nicht hat.
Allein in Serbien mit seinen sieben Millionen Einwohnern umfasst die offizielle Warteliste für staatliche Krankenkassenleistungen rund 75.000 Patienten. Auf kompliziertere Eingriffe warten Kranke oft jahrelang. In Bosnien machen in diesen Wochen die Schlagzeilen die Runde, wonach die Onkologische Klinik in Sarajevo ganz ohne Zytostatika (verhindern Zellwaschstum, bzw. Zellteilung) geblieben ist. Wer kein Geld hat - wartet und hofft, dass der Tod nicht schneller ist als das kaputte Gesundheitssystem.
Eine Parallelwelt
Abseits der überfüllten Wartezimmer in den meist verfallenen staatlichen Kliniken existieren längst schicke private Praxen und Krankenhäuser. Dort gibt es genug Personal und Medikamente, moderne Medizingeräte und die Versprechung, auf keine Untersuchung länger als drei Tage warten zu müssen. Mindestens 20 und bis zu mehreren hundert Euro pro Monat kostet die private Kranken-versicherung in Serbien. Was sich nur zwei Prozent der Bürger lesiten können.
"So bezahlt man eigentlich doppelt - denn die staatliche Krankenversicherung ist Pflicht", empört sich Danijela Stanković-Baričak, die serbische Expertin für Management im Gesundheitswesen. Noch mehr ärgert sie die Tendenz, dass auch die staatlichen Krankenhäuser verstärkt Patienten aufnehmen, die Untersuchungen in bar bezahlen oder privatversichert sind - ohne Wartezeit. "Das ganze Konzept ist ruiniert, wenn man diejenigen favorisiert, die zusätzlich bezahlen."
Dabei werden oft auch diejenigen bevorzugt, die unter der Hand bezahlen oder die "richtigen" Leute kennen. Auf dem aktuellen Korruptionsindex von Transparency International stehen die EU-Aspiranten vom Westbalkan nach wie vor schlecht da: Montenegro ist auf Platz 64, noch schlimmer steht Serbien (77), Kosovo (85), Albanien (91), Bosnien (91) und Mazedonien (107). In verschiedenen Umfragen werden die Ärzte neben den Verkehrspolizisten als am stärksten korrupt wahrgenommen. Die Zahl derer in Serbien, die angeben schon einmal "geschmiert" zu haben, um sich einen zeitnahen Arztbesuch sichern zu können, liegt im zweistelligen Bereich.
Die Ärzte wandern aus
Gleichzeitig erlebt die Auswanderung der Ärzte aus den Westbalkanländern eine regelrechte Konjunktur. "Im letzten Jahr ließen 180 von 220 neu diplomierten Ärzten von der Ärztekammer ein Zertifikat ausstellen, das die Arbeit im Ausland ermöglicht", sagt Goran Begović, der Gewerkschaftschef in der mazedonischen Hauptklinik in Skopje. "Diese Zahl ist erschreckend", sagte er der DW.
Das beliebteste Ziel ist Deutschland, wo ein Arzt das fünf- bis sechsfache wie Vergleich zu Mazedonien oder Serbien verdient. In 2016 stellten die Serben die drittgrößte Gruppe der neu zugelassenen Ärzte in Deutschland, hinter Syrern und Rumänen. Eine Studie der Organisation Healthgrouper ergab, dass drei Viertel der Ärzte in Serbien über Auswanderung nachdenken oder diese konkret planen. Ähnlich ist es in der ganzen Region.
So entsteht ein Teufelskreis - das Medizinpersonal wandert aus oder wechselt in den Privatsektor, in dem die Gehälter und Arbeitsbedingungen viel besser sind. Demgegenüber haben die staatlichen Gesundheitssysteme mit immer weniger Geld und Angestellten, dafür aber mit immer längeren Wartelisten zu kämpfen. Der Kollaps ist vorprogrammiert. Mirela Šišić, die ihr diabeteskrankes Kind durch das bosnische System schleppen muss, hat da keine große Hoffnung: "Gut möglich, dass meiner Tochter die Nieren versagen, ehe die Reform kommt."
Mitarbeit:
Sanja Kljajić (Novi Sad), Zdravko Ljubas (Sarajevo), Kostadin Delimitov (Skopje)