Krankenhäuser am Limit
10. März 2020Das Robert-Koch-Institut hat die deutschen Krankenhäuser aufgerufen, sich wegen der zunehmenden Ausbreitung der Coronavirus-Epidemie auf eine größere Zahl schwer erkrankter Patienten vorzubereiten. Das wird schwierig werden. Von den rund 28.000 Intensiv-Betten an deutschen Kliniken sind aktuell bereits 80 Prozent belegt. Das ist normal zu dieser Zeit im Jahr, denn es ist Influenza-Saison und so liegen zusätzlich schwer erkrankte Grippe-Patienten auf den Intensivstationen.
Die Notfallpläne der Krankenhäuser sehen vor, dass in Krisenzeiten auch normale Stationen zu Intensivstationen werden, beispielsweise, indem zusätzliche Beatmungsgeräte aufgestellt und Ärzte und Pflegepersonal anders aufgeteilt werden. Geplante Operationen werden abgesagt, Patienten, die nicht unbedingt sofort behandelt werden müssen, werden nach Hause geschickt. "Das betrifft sogar Tumor-Patienten", weiß Joachim Labenz, Professor für Innere Medizin und Klinikdirektor in Siegen. "Denen wird gesagt, dass sie wegen Corona jetzt nicht operiert werden können und zuhause bleiben sollen."
Überforderte Ärzte
Noch könne niemand sagen, was mit der Corona-Krise auf die Krankenhäuser zukomme. "Wir werden sehen, was das nach sich zieht", sagt Labenz. Eine Warnung hält der Mediziner aber bereit. "Die wichtigste Botschaft ist: Schützt die Ärzte und die Mitarbeiter, sonst fliegt uns das Gesundheitssystem um die Ohren."
Damit ist nicht nur das Corona-Virus gemeint. Das deutsche Gesundheitssystem sei "schwer krank", lautet die Diagnose des Klinik-Direktors und das sei ansteckend. "Es macht die Mitarbeiter krank." Zeitdruck, Kostendruck und eine überbordende Bürokratie hätten dazu geführt, dass immer mehr Mediziner am Limit seien. "Fast 60 Prozent der Ärzte fühlen sich überlastet, da sie häufig bis ständig über ihre körperlichen Grenzen gehen müssen." Vor allem in den Krankenhäusern sei inzwischen "alles an Wirtschaftlichkeit herausgequetscht" worden.
Pauschale Leistung statt tatsächlicher Kosten
Schuld an der Misere hat die Logik der Ökonomie. Bis 1985 war es per Gesetz verboten, in Krankenhäusern Gewinne zu machen. In den Jahren danach wurde das Verbot zunehmend gelockert, bis 2004 die sogenannten Fallpauschalen eingeführt wurden - ein weltweit einzigartiges Konstrukt. Die Krankenkassen erstatten den Kliniken nicht die tatsächlichen Kosten, sondern sie bezahlen einzelne Leistungen nach einem fest vorgegebenen Katalog.
Indem alle Kliniken die gleiche Vergütung bekommen, sollte ein Wettbewerb entstehen, der nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft zu sinkenden Kosten führen sollte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Deutschland hat eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. 75 Milliarden Euro werden bundesweit jährlich über Fallpauschalen an die rund 2000 deutschen Kliniken ausgezahlt.
Gewinnbringende Operationen
Viel Geld gibt es für technisch-medizinischen Aufwand. Deutschland hat in der Orthopädie und in der Kardiologie inzwischen weltweit die höchsten Fallzahlen. Patienten am Fließband wegen Hüft-, Knie- oder Rückenschmerzen zu operieren, bringt mehr Geld ein, als einem chronisch kranken Patienten Zuwendung und Pflege zu geben. "Wenn nur ein Operationssaal frei ist, aber zwei Patienten operiert werden müssen, dann wird der genommen, der am meisten Geld bringt", fasst Klinikdirektor Joachim Labenz zusammen.
Die Fallpauschalen werden unabhängig davon bezahlt, wie viel Personal die Leistung am Patienten erbracht hat oder wie hochwertig das bei Operationen verwendete Material ist. Gewinne ergeben sich, wenn die Kosten niedriger als die erzielten Fallpauschalen sind. Das hat dazu geführt, dass die Kliniken immer mehr Stellen gestrichen und den verbleibenden Mitarbeitern immer mehr Arbeit aufgebürdet haben.
"Eine Darmspiegelung zur Krebsvorsorge dauert bei einem erfahrenden Arzt 30 Minuten", rechnet Internist Labenz vor. "Vom 1. April 2020 an wird die entsprechende Fallpauschale um zehn Prozent gekürzt. Damit es sich weiter rechnet, sollen wir sie laut Klinikverwaltung dann in 18 Minuten erledigen."
Hunger, Schlafmangel und Stress
Laut einer Mitgliederbefragung der Ärztevereinigung Marburger Bund denkt inzwischen jeder fünfte Arzt darüber nach, den Beruf zu wechseln. Besonders betroffen sind junge Ärzte. Bei den unter 35-jährigen zeigen einer Studie zufolge 70 Prozent Anzeichen für einen Burn-out. Gerade junge Ärzte kämen mit idealistischen Vorstellungen in den Beruf, die sehr schnell der Realität weichen müssten, so Reinhard Strametz, Hochschulprofessor und Mitglied im Aktionsbündnis Patientensicherheit.
Ärzte, die in 24 Stunden Schichtdienst weder zum Essen noch zum Schlafen kommen, leiden unter Hunger, Schlafmangel, Stress und Erschöpfung. Die Folge sei eine sinkende Reaktionsfähigkeit, vergleichbar mit erhöhtem Blutalkoholspiegel. Das führe zu Fehlern, die in einem Hochrisikobetrieb wie einem Krankenhaus eigentlich unter allen Umständen zu vermeiden seien, kritisiert Strametz.
Arbeitsbedingungen müssen sich ändern
Lange habe die Vorstellung vorgeherrscht, dass Ärzte nahezu unbegrenzt belastbar seien. Doch das Tabu falle, auch angesichts zunehmender Fehler, sagt Strametz. "Das ist nicht das pure menschliche Versagen aufgrund mangender Intelligenz oder Verantwortungslosigkeit, das zu solchen Fehlern führt, sondern es sind unsichere Handlungen auf dem Boden unsicherer Arbeitsbedingungen."
Der Siegener Klinikdirektor Joachim Labenz fordert von der Politik, für bessere Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern zu sorgen und die Fallpauschalen abzuschaffen. Zudem verlangt er eine Personaluntergrenze für Ärzte in Kliniken.
Mehr Geld für Pflegekräfte
In der Pflege gibt es bereits eine solche Untergrenze in besonders pflegeintensiven Bereichen. Außerdem hat der Bundestag Ende letzten Jahres das Pflegestärkungsgesetz auf den Weg gebracht. In Zukunft sollen die Kosten für Krankenschwestern und Pfleger aus der Fallpauschale herausgenommen werden und in Form eines Jahresbudgets, gemessen an der tatsächlichen Personalstärke, erstattet werden. Das gilt aber nicht für die Ärzte und Joachim Labenz hält es für durchaus möglich, dass Kliniken nun versuchen könnten, stattdessen an den Ärzten weiter zu sparen. Zumal der zunehmende Fachkräftemangel auch bei den Medizinern dazu führt, dass Stellen nicht besetzt werden können.
Wie die ohnehin am Limit arbeitenden Ärzte mit der Corona-Krise zurechtkommen werden, das wagt Labenz nicht vorauszusagen. "Das wird davon abhängen, wie viele Patienten in die Kliniken kommen und wie viele Ärzte dann auch bereit sind, diese Patienten zu versorgen." Für sein Anliegen, das "schwer kranke Gesundheitssystem" zu therapieren, ist die Corona-Krise jedenfalls auch eine Chance. "Die Belastbarkeit der Gesundheitsstrukturen und der Ärzte könnte durchaus in den Vordergrund rücken."