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Krieg in Nahost: Aufflammende Gewalt im Westjordanland

Max Zander aus Ramallah
21. Oktober 2023

Nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober geht Israel weiter mit Luftschlägen auf Ziele im Gazastreifen vor. Im Westjordanland entladen sich Verzweiflung und Wut auf der Straße. Aus Ramallah berichtet Max Zander.

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Brennender Autoreifen in Ramallah im Westjordanland
Nach einer Demonstration zünden Jugendliche Reifen an, werfen Steine in Richtung des israelischen Militärs - es fallen SchüsseBild: Max Zander/DW

Die Straße, die zur Abdel-Nasser-Moschee führt, ist an diesem Freitagnachmittag voller Menschen. So groß ist der Andrang. Vor den Eingängen der Geschäfte, neben Auslagen von Kinderspielzeug aus Plastik und Lederwaren stehen Gläubige, Männer und Kinder in mehreren Reihen. Einige haben kleine Teppiche auf den Asphalt ausgebreitet. Andere benutzen Schals oder Kartons oder knien sich direkt auf dem blanken Asphalt zum Beten nieder, während aus den Lautsprechern der Moschee die Stimme des Imams erklingt. 

Das, was der Predigt folgt, dürfte ein weiterer Grund sein, warum so viele Menschen heute hier sind. Hier im israelisch-besetzten Westjordanland in Ramallah, verfolgen Palästinenser sehr genau, was in Gaza passiert und wie die Welt darauf reagiert. In den vergangenen Wochen haben verschiedenen Gruppen immer wieder zu Protesten aufgerufen. So auch heute. 

Männer beim Freitagsgebet in Ramallah im Westjordanland
Großer Andrang beim Freitagsgebet in Ramallah: Danach formiert sich die Menge zu einem DemonstrationszugBild: Max Zander/DW

Das Gebet ist vorbei und die Menge setzt sich langsam in Bewegung, marschiert Richtung Hauptstraße. Besonders groß ist dieser Protest nicht, aber die vielen Flaggen, Plakate und die lauten Rufe lassen an der Überzeugung der Demonstranten keinen Zweifel übrig.

Wut auf Palästinensische Autonomiebehörde

"Freiheit für Palästina" wird gerufen. Die Wut hier auf der Straße richtet sich gegen so vieles - die israelischen Luftangriffe auf den Gazastreifen, die Solidarität des Westens mit Israel, die israelischen Besatzer im Westjordanland und die Palästinensische Autonomiebehörde.

Jugendlicher Hamas-Sympathisant in Ramallah
Einige Demonstranten sympathisieren offen mit der Hamas - auch dieser JungeBild: Max Zander/DW

Das Westjordanland wird nicht von der militant-islamistischen Hamas regiert, sondern von der Fatah-dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde. Sie wird von vielen als schwach, korrupt, unfähig und uneffektiv wahrgenommen, vor allem in der jetzigen Situation.

Sabri Saidam steht am Rand der Proteste. Er ist der stellvertretende Generalsekretär der Fatah. Für ihn ist vor allem der Westen Schuld an der Lage. Er erinnert an die Rede von Präsident Mahmud Abbas bei den Vereinten Nationen in New York, an die Warnung, die dieser ausgesprochen habe, dass die Weltgemeinschaft die Palästinenser im Stich lässt. "Die Autonomiebehörde hat die Verantwortung, ihre Bürger zu beschützen. Aber Israel macht ihre Aktionen zunichte. Israel stellt weitere Hürden auf." 

Sabri Saidam, stellvertretender Generalsekretär der Fatah
Sabri Saidam, stellvertretender Generalsekretär der Fatah: "Israel stellt weitere Hürden auf."Bild: Max Zander/DW

Solidarität mit der Hamas wächst

Seine Fatah-Partei und die Hamas sind historisch verfeindet. Und doch in der Menge sieht man neben palästinensischen Fahnen und dem gelben Banner der Fatah nicht wenige grüne Flaggen - die der Hamas. Im Zuge der Terrorangriffe der Hamas vom 7. Oktober sind nach Angaben des Militär auf israelischer Seite 1400 Menschen gestorben - Soldaten und Zivilisten. Rund 200 Menschen verschleppte die Hamas. Von vielen westlichen Staaten, so auch von Deutschland, und einigen arabischen Staaten wird sie als Terrororganisation eingestuft. Für viele hier im Westjordanland wird sie als die einzige Stimme wahrgenommen, die ihnen bleibt.  

So auch für Isla Hijab. Die Professorin will zunächst nicht mit der DW sprechen, erklärt, der deutsche Auslandssender sei voreingenommen, zionistisch. Schließlich lässt sie sich überzeugen. "Wir sind keine Terroristen, wir kämpfen seit mehr als 70 Jahren für unser Recht." Die Hamas, so Hijab, sei Teil der palästinensischen Gesellschaft und sollte als solcher akzeptiert werden.

Demonstrantin Islah Hijab
Demonstrantin Islah Hijab: "Wir sind keine Terroristen, wir kämpfen seit mehr als 70 Jahren für unser Recht."Bild: Max Zander/DW

Deutschland, wie auch andere Länder, hätten doppelte Standards, wenn es um das Leben von Israelis und Palästinensern gehe. "Wir wurden kolonisiert, unterdrückt, in Gaza findet ein Genozid statt und westliche Medien verschließen ihre Augen vor diesen Tatsachen, um wie Papageien zu wiederholen, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen", sagt sie.

Angst um Angehörige in Gaza

Viele Menschen im Westjordanland haben Familie in Gaza. Laut der Hamas sind bereits mehr als 4300 Menschen bei israelischen Angriffen, die eine Reaktion auf den Hamas-Terror sind, getötet worden. Viele hier in Ramallah haben Angehörige verloren oder Leben in Angst, dass ihnen etwas zustoßen könnte. So wie Hiyam Mouhammed Ibrahim. Ihre Tochter ist in Gaza. Die ältere Dame steht am Rand des Protests, ganz in schwarz gekleidet, in der linken Hand ein zusammen geknülltes Taschentuch.

Hiyam Mouhammed Ibrahim
Hiyam Mouhammed Ibrahim ist in großer Sorge, weil ihre Tochter im Gazastreifen istBild: Max Zander/DW

"Sie bombardieren Gebäude mit Zivilisten darin, eine Schande, warum tun sie das? Meine Tochter hat zu mir gesagt: 'Ich zittere, ich halte die Bombardierungen nicht aus, jeden Tag, jede Stunde Bomben. Wir können nicht schlafen", erklärt die alte Frau mit zittriger Stimme. Auch den arabischen Staaten, sagt Ibrahim, könne sie nicht verzeihen. "Sie haben uns ganz alleine gelassen." Dann bricht sie zusammen, jemand fängt sie auf und reicht ihr Wasser, Sanitäter kommen dazu. 

2023 das tödlichste Jahr im Westjordanland

Die Ereignisse in Gaza führen zu Wut und Verzweiflung unter den Palästinensern im Westjordanland. Aber schon vor dem 7. Oktober hat sich die Situation für die deutlich verschlechtert. 2023 ist nach Daten des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) das bisher tödlichste Jahr im Westjordanland seit der Aufzeichnung im Jahr 2008. Bis zum Krieg starben in diesem Jahr bei Auseinandersetzungen mehr als 29 Israelis, darunter größtenteils jüdische Siedler. Dem gegenüber stehen 189 Palästinenser, die in Zusammenstößen mit dem israelischen Militär oder auch bewaffneten Siedlern getötet wurden. Israelische Siedlungen im Westjordanland werden vom Internationalen Gerichtshof und von den Vereinten Nationen als völkerrechtlich illegal eingestuft.

Demonstrationszug in Ramallah
Die Demonstranten in Ramallah im Westjordanland wollen ihrer angestauten Wut bei dem Protestzug Ausdruck verleihenBild: Max Zander/DW

In den Wochen seit Kriegsbeginn wurden dutzende weitere Palästinenser getötet. Ein Grund dafür sind die Ausweitung von Militäroperationen, bei denen bisher hunderte Palästinenser festgenommen wurden. Aber auch Gewalt von Seiten jüdischer Siedler hat deutlich zugenommen. Die palästinensische Menschenrechtsorganisation Al Haq gibt an, dass seit dem 7. Oktober 80 Palästinenser, darunter 20 Minderjährige, bei Zusammenstößen mit israelischen Soldaten und bewaffneten Siedlern getötet wurden. 

Am Ende fallen Schüsse

Der zentrale Kreisverkehr nahe der Moschee ist bald leer, die Demonstranten ziehen weiter in Richtung eines israelischen Checkpoints. Nur ein Teil der ursprünglichen Demo ist dabei, darunter einige vermummte Jugendliche. An einem Kreisverkehr, schätzungsweise 200 Meter entfernt von der jüdischen Siedlung Beit El, sammelt sich die Gruppe unter dem Dach einer Tankstelle und im näheren Umfeld. Rettungswagen des Roten Halbmonds stehen abseits bereit, sowie Sanitäter mit Warnwesten, auf denen auf Arabisch und Englisch geschrieben steht: "Nicht schießen, ich bin kein Ziel, sondern ein Ersthelfer." 

Warnweste mit Aufschrift: "Nicht schießen, ich bin kein Ziel, sondern ein Ersthelfer"
"Nicht schießen, ich bin kein Ziel, sondern ein Ersthelfer" steht auf den orangefarbenen Warnwesten der SanitäterBild: Max Zander/DW

Einige Jugendliche zünden Autoreifen an. Der schwarze Rauch soll den israelischen Soldaten die Sicht nehmen, die auf den hohen Betonmauern der Siedlung Stellung bezogen haben. Die Situation ist angespannt. Ein kleiner Junge mit gelber Binde am Kopf rollt einen Reifen ins Feuer und entfernt sich. Ab und an kommt ein vermummter Jugendlicher aus der Menge und schleudert einen Stein mit einer Schleuder in Richtung der Soldaten. Ob er auf die Entfernung etwas treffen kann, ist fraglich.

Einer der Steinewerfer ist erst 14. Auf die Frage, warum er hier ist, sagt er, er wolle sein Land verteidigen und den Juden zeigen, dass es Widerstand gibt und Menschen, die ihr Land lieben.

Ein vermummter Jugendlicher in Ramallah
Dieser 14-Jährige ist einer der Steinewerfer - er möchte seine Heimat verteidigen und Widerstand zeigenBild: Max Zander/DW

Das israelische Militär beobachtet nicht nur die Situation. Es wird auch geschossen. Das peitschende Geräusch hallt über den Platz vor der Tankstelle. Ein Mann geht zu Boden, sofort sind weitere Männer zur Stelle, um ihn in den herbeigeilten Rettungswagen zu hieven. Neben der Zapfsäule ist deutlich Blut zu sehen. In einer Stellungnahme der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte heißt es gegenüber der DW, man habe unter anderem scharfe Munition benutzt, um einen Aufstand zu beenden.

Am Ende des Tages zählt der Rote Halbmond 16 verwundete Menschen, allein in Ramallah.