Krieg und Alltag in Polen
19. Mai 2022Ein Imbiss in Swinoujscie (Swinemünde), einem Städtchen an der polnischen Ostsee. Das Schnellrestaurant "Bei Oma Halinka" hat sich auf die berühmten Teigtaschen, polnisch Pierogi, spezialisiert. Ich fühle mich an meine eigene Oma erinnert. Ihre "Russischen Pierogi" liebte ich!
Jeder in Polen weiß, wie Russische Pierogi schmecken: Eine Füllung aus Kartoffeln, Quark und Zwiebeln, mit reichlich Pfeffer - lecker! Ich stelle mich in die Schlange zur Theke und plötzlich kommt die Überraschung: Auf der Menütafel ist das aufgedruckte "Russisch" vor dem Wort Pierogi überklebt worden. Jetzt heißt es: "Ukrainische Pierogi".
Laut polnischem Grenzschutz sind seit dem 24. Februar dieses Jahres 3,4 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine nach Polen eingereist. Zusätzlich zu den bis zu 1,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die dort schon vorher gelebt und gearbeitet haben. In der selben Zeit sind zwar auch etwa 1,3 Millionen ausgereist, doch das ändert nichts am Gesamtbild: Überall im Land hört man auf den Straßen, in Läden und Cafés Ukrainisch, Russisch oder dieses charmante Polnisch, dessen Melodie eine Mischung aus allen drei Sprachen ist.
Doch mit den Pierogi in dem Imbiss fällt mir noch etwas anderes auf: Der Krieg ist im Alltag angekommen. Er verändert das Konsumverhalten, prägt die Popkultur. Im Guten wie im Schlechten.
Krieg und Alltag
Kurz nach dem Imbissbesuch gehe ich zu einer Benefizveranstaltung junger ukrainischer Künstlerinnen und Künstler. Eine DJ in weitem T-Shirt mit Led-Zeppelin-Aufdruck spielt ukrainischen Neo-Folk. Man trinkt Bier, bewegt sich im Takt der Musik und grölt zwischen dem einen und dem anderen Stück "Ruhm der Ukraine! Tod den Feinden!"
Ein anderes Beispiel: ein bekannter polnischer Senfproduzent. Plötzlich ist eine beliebte Sorte in seiner Produktpalette, der "Russische Senf", aus den Regalen verschwunden. Nicht mehr lieferbar, wie es auf der Homepage des Unternehmens heißt.
Auch eine Oper von Mussorgski wird aus dem Programm des polnischen Nationaltheaters genommen, aus Solidarität mit den "heroischen Kämpfen der Ukrainer für ihr Vaterland", wie es der Leiter des Theaters formuliert.
Ein angesehener liberaler Schriftsteller belehrt seine Follower in den sozialen Medien, "die Russen" seien Mörder und Vergewaltiger. Wer sich weigert, das anzuerkennen und versucht, zu differenzieren, wird als Idiot bezeichnet.
Schließlich lässt sich ein prominenter progressiver Journalist beinahe täglich dazu verleiten, Videos aus dem aktuellen Kriegsgeschehen zu posten. Da wird ein Granatwerfer abgefeuert, und aus einem russischen Panzer steigt eine Rauch- und Feuerwolke auf. Die Videos werden mal mit martialischer Musik untermalt, mal ganz schlicht mit einem fröhlichen Pop-Song und als "gute Nachrichten" kommentiert. Bezeichnenderweise werden so nicht nur Angehörige der regulären ukrainischen Streitkräfte "gefeiert", sondern auch Mitglieder von Freiwilligenbataillonen, deren politische Gesinnung dem Journalisten vor kurzem noch gänzlich zuwider war.
Gewalt, die bleibt
Kriege, die Teile des Alltags und der Popkultur geworden sind, habe ich an vielen anderen Orten gesehen. Schon vor rund zwanzig Jahren während meiner ersten Reisen in den Libanon bemerkte ich Aufkleber an Autoscheiben. Sie zeigten einen bewaffneten Mann in Heldenpose, mit Maschinenpistole in der einen Hand und der Flagge der berüchtigten Partei Gottes (Hisbollah) in der anderen. Als ich dann bei dem einen oder anderen Fahrzeugbesitzer nachhakte, hieß es: Ich muss ja die politischen Ansichten der Partei nicht teilen, aber sie kämpfen immerhin für die Freiheit des Landes.
Ich erinnere mich auch an handgenähte Puppen in Nationaltrachten, mit einer Kalaschnikow aus Filz am Arm, im mexikanischen San Christobal de las Casas. In einer Zeit, in der soziale Medien noch kaum eine Rolle spielten, wurden sie über ein Netzwerk von lokalen Läden vermarktet, wo man sie samt einer DVD über den Kampf der Zapatistas unter Subcomandante Marcos kaufen konnte.
Südlibanon und der Süden von Mexiko sind nur zwei von zahlreichen Regionen der Welt, die bereits jahrzehntelang von Krieg und Gewalt gezeichnet sind. Denn Kriege, die zum Alltag werden und in der populären Kultur angekommen sind, sind sehr schwer zu beenden. Ist die Gewalt einmal mitten unter uns, breitet sie sich unaufhaltsam aus. Wir alle gewöhnen uns an den Konflikt und lernen, mit ihm zu leben. Damit geht die Gefahr einher, dass er sich verlängert und intensiviert. Mit einem Krieg, der im Alltag angekommen ist, steht nicht nur der Ukraine ein schlimmes Schicksal bevor.
Stanisław (Stan) Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Sein aktueller Roman "Der Geschichtenhändler" erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten.