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Kriege und Erdbeben - Warum unser Mitgefühl ermüdet

23. Februar 2023

Ein Jahr Krieg in der Ukraine, furchtbare Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Die schrecklichen Bilder verfolgen uns. Irgendwann ertragen viele nicht noch mehr Katastrophenberichte. Sie stumpfen ab.

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Anwohner verlassen mit ihren Habseligkeiten ihr Haus, das bei einem russischen Raketenangriff zerstört wurde.
Die Nachrichten von Kriegen, Erdbeben und anderen menschlichen Krisen fordern unsere Empathie mit BetroffenenBild: Andriy Andriyenko/AP Photo/picture alliance

Viele Unbeteiligte ertragen die Flut von schlechten Nachrichten irgendwann nicht mehr. Sie wollen keine Berichte über Krieg, Zerstörung, Katastrophen und menschliches Elend mehr lesen und auch keine entsprechenden Bilder mehr sehen. Und so lassen viele die Berichte nicht mehr an sich herankommen, andere schalten ganz ab, sind überfordert, obwohl sie selbst in Sicherheit sind.

Dieses Phänomen hat einen Namen. Die "Mitleidsmüdigkeit" (Engl. "Compassion fatigue") ist eine natürliche Reaktion auf das übermäßige Leiden anderer. Doch Forschende sind sich auch einig, dass die verlorengegangene Empathie wiederaufgebaut werden kann.  

"Ich habe das nach der Invasion in der Ukraine gespürt", sagt Jessica Roberts, Assistenzprofessorin für Kommunikationswissenschaften an der Universidade Católica Portuguesa in Lissabon. "Als ich zum ersten Mal von den Gräueltaten hörte, war ich entsetzt, aber dann hörte ich von einer weiteren Stadt [die betroffen war] und meine Reaktion war nicht mehr ganz so extrem."

Mitleidsmüdigkeit muss kein Dauerzustand sein. Wie Susan Sontag 2003 in ihrem Essay "Das Leiden anderer betrachten" [Originaltitel: "Regarding the Pain of Others"] schrieb: "Mitgefühl ist eine instabile Emotion. Es muss in Taten umgesetzt werden, sonst verkümmert es."

Wie können wir also Mitgefühl in Taten umsetzen? Mitgefühl kann ermüden, es kann aber auch wieder aufgebaut werden.  

Mitleidsmüdigkeit und Gefühllosigkeit gegenüber Gewalt

Dazu hat Brad Bushman, Medienforscher an der Ohio State University in den USA, Experimente durchgeführt. Sie zeigen, wie Gewalt in verschiedenen digitalen Medienformaten, etwa Videospielen und Filmen, die Menschen gegenüber dem Leiden anderer oder gegenüber Gewalt im wirklichen Leben desensibilisieren kann. 

In einer Studie ließen Bushman und seine Kollegen 320 Studierende 20 Minuten lang entweder ein gewalttätiges oder ein gewaltfreies Videospiel spielen. Nach dem Spiel wurden die Teilnehmenden gebeten, einen Fragebogen zu beantworten. Währenddessen hörten sie, wie draußen auf dem Flur ein Kampf ausbrach. 

"In Wirklichkeit handelte es sich um eine Aufnahme von professionellen Schauspielern, die sich prügelten. Wir hatten auch einen Forschungsassistenten außerhalb des Raums, der gegen einen Mülleimer trat und anfing zu stöhnen", erzählt Bushman.

Die Forschenden haben gemessen, wie lange die Teilnehmenden brauchten, um dem stöhnenden Assistenten zu helfen. Im Durchschnitt brauchten die Teilnehmenden, die das gewaltfreie Spiel spielten, 16 Sekunden, während die Teilnehmenden, die das gewalttätige Spiel spielten, 73 Sekunden benötigten, bis sie dem vermeintlich Verletzten zu Hilfe eilten. 

Außerdem, so Bushman, schätzten diejenigen, die das gewalttätige Videospiel spielten, den Kampf als weniger ernst ein als diejenigen, die das gewaltfreie Spiel spielten.

Doch es wäre zu einfach, daraus zu schließen, dass gewalttätige Videospiele Gewalt verursachen. In Bushmans Experimenten aber schienen sie die Reaktionen der Teilnehmenden auf Gewalt in der realen Welt zumindest vorübergehend zu verändern.

"Die Folge davon ist, dass man gefühllos wird, wenn man gewalttätige Bilder sieht und dass man denkt, Gewalt sei keine große Sache. In der realen Welt führt das dazu, dass man wahrscheinlich weniger dazu bereit ist, einem Gewaltopfer zu helfen", so Bushman.

Person spielt Call of Duty Modern Warfare
​​​​Forschungen haben gezeigt, dass gewalttätige Videospiele die Nutzer gegenüber Gewalt in der realen Welt desensibilisieren können Bild: Tim Ireland/empics/picture alliance

Mitleidsmüdigkeit ist eine Form von emotionalem Schutz

Laut Bushman ist der psychologische Mechanismus, der der Mitleidsmüdigkeit zugrunde liegt, die Desensibilisierung.

"Es ist eine Art emotionaler oder aufmerksamkeitsbezogener Filter, der uns davor schützt, dass ein Leiden zu stressig oder traumatisch wird, um es zu bewältigen", sagt Bushman.

Die Desensibilisierung gegenüber Gewaltbildern lässt sich auch daran festmachen, wie die Menschen körperlich auf Stress reagieren. 

"Wenn man die Reaktion des Herz-Kreislauf-Systems oder die Hirnströme misst, stellt man fest, dass die physiologischen Schockreaktionen auf Gewaltbilder bei Menschen, die gerade ein gewalttätiges Videospiel gespielt haben, gedämpft sind", sagt Bushman.

Aber, so Bushman weiter, die Desensibilisierung gegenüber Gewalt und Trauma könne eine wichtige Anpassungsstrategie für Menschen sein, die beruflich häufig mit traumatischen Ereignissen konfrontiert sind, wie Soldaten, Entwicklungshelfer oder Ärzte.

Das Problem ist, wenn wir diese Desensibilisierung in der "normalen" Bevölkerung feststellen. 

"Diese Anpassung ist einer der Mechanismen, die Aggression und Gewalt in der Gesellschaft vorantreiben", erklärt Bushman. Er verweist dabei auf Forschungsergebnisse, die zeigen, wie der Konflikt in Israel und Palästina die Gewalt bei Kindern eskalieren lässt.

Mitleidsmüdigkeit gegenüber Flüchtlingen

Yasmin Aldamen von der Ibn-Haldun-Universität in Istanbul weist auf die Gefahr hin, dass Mitleidsmüdigkeit zu mehr Gewalt und Hassreden in der Gesellschaft führen kann. Aldamens Forschung konzentriert sich auf die Auswirkungen von Mitleidsmüdigkeit und negativer Mediendarstellungen auf syrische Flüchtlinge in der Türkei und in Jordanien.

"Wir haben herausgefunden, dass die Darstellung negativer Bilder und Botschaften von Flüchtlingen in den Medien dazu führt, dass das Publikum die Empathie für sie verliert oder sogar Hass gegen Flüchtlinge entwickelt", so Aldamen. 

Leider ist dies weder neu noch überraschend. Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten gibt es schon so lange, wie Menschen vor Konflikten fliehen und umgesiedelt werden. Neu ist jedoch, wie schnell verschiedene Medien zu Mitleidsmüdigkeit und entsprechend zu Hassreden und Rassismus führen können.

Mann legt einem anderen die Hand auf die Schulter
Astoun, ein ehemaliger Flüchtling aus Syrien, arbeitet jetzt als RettungshelferBild: Michael Bunel for Infomigrants

Wir erleben das immer wieder, etwa wenn Flüchtlinge vor der Taliban-Übernahme in Afghanistan fliehen, bei der Krise in der Ukraine und bei Flüchtlingen, die versuchen, den Konflikten und dem Klimawandel in Nordafrika zu entkommen. 

"Es gibt Belege dafür, dass die Menschen nach einer Katastrophe mit der Zeit weniger Hilfsgelder geben. Bei den Erdbeben in der Türkei und in Syrien ist das bereits der Fall", so Jessica Roberts von der Universidade Catolica Portuguesa.

Mitleidsmüdigkeit kann rückgängig gemacht werden

Nach Ansicht von Roberts und Aldamen kann Mitleidsmüdigkeit aber auch rückgängig gemacht werden. Beide sind der Ansicht, dass man seine Fähigkeit zu Mitgefühl mit der Zeit wiederaufbauen kann.

"Wir können soziale Medien nutzen, um Empathie und Mitgefühl zwischen Menschen zu schaffen. In unserer Forschung haben wir uns 'Menschen in New York' [Originaltitel: "Humans of New York"] angesehen. Darin konzentriert sich ein Mann auf die positiven und nachvollziehbaren Geschichten aus dem Leben der Menschen anstatt auf ihre Traumata. Das hat dazu beigetragen, große Empathie zu erzeugen", so Roberts.

Aldamen verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Sie fordert die Medien und die Menschen in den sozialen Medien dazu auf, die Art und Weise zu ändern, in der sie Flüchtlinge und andere gefährdete Bevölkerungsgruppen darstellen.

"Meine Studie empfiehlt, die Berichterstattung über die syrische Flüchtlingskrise [und andere Krisen] aus einer mehr humanistischen Perspektive zu betrachten. Die Medien müssen einige der positiveren Geschichten aus der Flüchtlingskrise zeigen. So können sie sicherstellen, dass die Menschen nicht beginnen, bei tragischen Geschichten keine Mitleidsmüdigkeit zu entwickeln", sagt Aldamen.

Außerdem sei es wichtig, dass Nachrichtenartikel einzelne Personen oder politische Entscheidungsträger zu Handlungen konkret auffordern. Das macht die Leser nicht mehr nur zu Beobachtenden einer Situation, die sie für nicht lösbar halten. 

Aus dem Englischen adaptiert von Gudrun Heise