Krisengeplagte Argentinier haben die Wahl
27. Oktober 2019"Ich habe mein Land noch nie so leiden gesehen", sagt Manuel. Er ist 27 und Taxifahrer, und er fürchtet seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise in seiner Heimat um seine Existenz. "Uns mangelt es an allem. Wir arbeiten und arbeiten und haben doch nicht genug zum Leben."
Argentinien geht es schlecht. Die Inflationsrate liegt bei 53,5 Prozent. Ein Drittel der Argentinier lebt unterhalb der Armutsgrenze. Im September sah sich der Kongress des einst reichsten Landes Lateinamerikas dazu gezwungen, den Ernährungsnotstand auszurufen. Bis Ende 2019 werden 4,5 Millionen Menschen im Land offiziell als mittellos gelten.
Für viele Argentinier ist klar: Das Desaster haben sie Präsident Mauricio Macri zu verdanken. Als er 2015 an die Macht kam, versprach er den Bürgern ein Land ohne Armut, neue, stabile Arbeitsplätze und eine Inflationsrate von unter zehn Prozent. Vier Jahre später steht er vor einem Scherbenhaufen.
Tragisch gescheitert
Macris Plan, die argentinische Finanzpolitik nach Jahren des Protektionismus zu liberalisieren, ist auf tragische Art und Weise gescheitert. Anstatt ausländische Investoren anzuziehen und die unbeständige Wirtschaft durch freiere Wettbewerbsbedingungen zu stimulieren, machte er das Land zur Spielwiese für Währungsspekulanten und suchte schließlich Hilfe beim Internationalen Währungsfonds.
Der gewährte Argentinien im Juni 2018 mit 50 Milliarden Dollar den höchsten Kredit seiner Geschichte. Nach kurzer Zeit wurde die Summe um weitere 6,3 Milliarden Dollar aufgestockt. Es folgte eine drastische Austeritätspolitik, die der Mittelklasse zum Verhängnis wurde - und nun höchstwahrscheinlich auch dem Präsidenten.
Macri beteuert, seine Regierung habe viel erreicht: Es wurden wichtige infrastrukturelle Verbesserungen im Land in die Wege geleitet, internationale Beziehungen wurden gestärkt und Argentiniens Versorgungsunabhängigkeit gefördert.
Doch all das klingt nebensächlich für einen, der wie Manuel 14 Stunden am Tag Taxi fährt und doch am Ende des Monats seine Stromrechnung nicht bezahlen kann. Wie ihn gibt es viele. Sie alle fühlen sich allein gelassen von ihrem Präsidenten, einem Mann, den sie bezichtigen, die Probleme der zerfallenden Mittelklasse nicht zu verstehen und nur Politik für die Reichen zu machen.
Fernández und Fernández
Abhilfe verspricht Oppositionskandidat Alberto Fernández. Der Anwalt und Juraprofessor kennt die argentinische Politik gut. Er war Kabinettsleiter unter Präsident Néstor Kirchner und später unter dessen Frau, Cristina Fernández de Kirchner. Doch nach kurzer Zusammenarbeit trennten sich im Jahr 2008 die Wege von Fernández und Fernández. In der Folge wurde Alberto Fernández zu einem harten Kritiker des populistischen Kirchnerismus.
Elf Jahre später scheinen die Differenzen - zumindest nach außen - beseitigt. Im Frühjahr 2019 überrascht die umstrittene Ex-Präsidentin mit der Ankündigung, sie werde Macri nicht selbst herausfordern, sondern habe Alberto Fernández als Präsidentschaftskandidaten des "Frente de Todos"-Bündnisses auserkoren. Sie bewirbt sich neben ihm um das Amt der Vizepräsidentin.
Ein schlauer, wenn auch ungewöhnlicher Schachzug. Alberto Fernández ist moderater als seine ehemalige Chefin. Er distanziert sich vom klassischen lateinamerikanischen Linkspopulismus und tritt als pragmatischer Peronist auf. Das macht ihn für viele Argentinier leichter wählbar als die polarisierende Expräsidentin, die zudem noch in mehreren Fällen unter Korruptionsverdacht steht.
In den Vorwahlen im August sprachen 48 Prozent der Bürger dem Team Fernández-Fernández ihr Vertrauen aus. Mauricio Macri und sein Vizepräsidentschaftskandidat Miguel Ángel Pichetto landeten abgeschlagen bei 32 Prozent. Und auch wenn Macri seit dem ernüchternden Ergebnis ohne Unterlass durchs Land tourt, Hände schüttelt und bessere Zeiten verspricht: Seine Tage in der Casa Rosada sind mit größter Wahrscheinlichkeit gezählt.
Wie lange hält die Koalition?
Wie es mit dem Land weitergeht, ist ungewiss: Zu groß ist die Sorge über ein erneutes Zerwürfnis zwischen ihm und Cristina Fernández. "Wir fragen uns nicht, ob die 'Frente de Todos'-Koalition zerbrechen wird, sondern wann", sagt Jimena Blanco, Amerika-Chefin der Risikoberatungsfirma Maplecroft. "Je nachdem, wie moderat sich Fernández als Präsident zeigt, könnte er sich dann von der radikaleren Fraktion des Kirchnerismus abspalten und mit der Unterstützung der Peronisten aus der Mitte regieren."
Den künftigen Präsidenten erwartet alles andere als ein einfacher Job. "Zunächst müssen realistische Rückzahlungsvereinbarungen mit den Gläubigern - allen voran dem IWF - getroffen werden", sagt Blanco. "Erst dann kann die Regierung die Inflation angehen und versuchen die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität im Land zu steigern."
Sollte keiner der Kandidaten die 45-Prozent-Hürde nehmen, wird die neue Regierung in einer Stichwahl am 24. November gewählt.