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Kritik am Urteil gegen Selek

Thomas Seibert28. Januar 2013

Der Schuldspruch gegen die Soziologin Pinar Selek hat in der Türkei resigniertes Kopfschütteln ausgelöst. Kritiker des einhellig als Skandal betrachteten Urteils hoffen auf den Europäischen Gerichtshof in Straßburg.

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Porträt der türkischen Soziologin und Autorin Pinar Selek (Foto: AFP/Getty Images)
Bild: AFP/Getty Images

"Dies ist die Türkei": So lautet ein Spruch, der am Bosporus immer dann zu hören ist, wenn eine Frage mit Hilfe der Logik partout nicht zu beantworten ist. So ist es auch nach dem Urteil gegen die Soziologin, Feministin und Schriftstellerin Pinar Selek vom 24. Januar: Niemand kann sich so richtig erklären, warum eine Angeklagte nach anderthalb Jahrzehnten des Rechtsstreits, mehreren Freisprüchen und erheblichen Zweifeln an den Beweismitteln zu lebenslanger Haft verurteilt wird.

Selbst Fachleute stehen vor einem Rätsel. Halil Dogan ist einer der Experten, denen zum Thema Selek zu allererst der viel zitierte Spruch "Dies ist die Türkei" einfällt: "Es gibt hier immer wieder Unrechtsurteile, besonders in politischen Verfahren", erklärt Dogan, Chef des Verbandes Demokratischer Anwälte, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Er erinnerte daran, dass schon der Vorsitzende Richter im Verfahren gegen den früheren Ministerpräsidenten Adnan Menderes im Jahr 1961 offen gestand, dass er auf Weisung der damaligen Militärregierung gehandelt habe. Menderes wurde zum Tode verurteilt und gehängt.

"Sie wollen mich terrorisieren"

Pinar Selek selbst sagte, man wolle sie terrorisieren und ihr Angst einjagen, aber das Gegenteil sei bei ihr und ihren Unterstützern eingetreten: "Wir haben mit der Zeit gelernt, stärker zu werden", sagte sie der Zeitung "Hürriyet" nach der Entscheidung. Ihr Vater und Anwalt Alp Selek will das Urteil anfechten.

Die Justiz wirft Selek vor, 1998 als Mitglied der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit einem Bombenanschlag in Istanbul sieben Menschen getötet zu haben. Zu jener Zeit recherchierte sie als Soziologin über die PKK. Selek wies die Vorwürfe zurück, wurde aber noch im Juli 1998 verhaftet und gefoltert, bevor sie im Jahr 2000 wieder freigesprochen wurde. Ein Verdächtiger hatte behauptet, dass Pinar Selek an einem Anschlag beteiligt gewesen sei - doch später zog er sein Geständnis zurück und erklärte, er habe es unter Folter abgelegt.

Porträt des deutschen Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff (Foto: dapd)
Günter Wallraff verteidigt SelekBild: dapd

Seit 2009 lebt sie im Exil: zuerst als Writers-in-Exile-Stipendiatin des PEN-Club in Berlin, inzwischen in Straßburg, wo sie an ihrer Doktorarbeit über Emanzipationsbewegungen in der Türkei arbeitet. In ihrer Forschungsarbeit hat sich Selek in der Vergangenheit unter anderem mit diskriminierten Gruppen wie sexuellen Minderheiten beschäftigt, aber auch mit männlichen Identitäten und Machismus in der Türkei.

Selbst der Staatsanwalt war schockiert

Trotz zahlreicher Gutachten konnten die Gerichte bis heute nicht klären, ob die Explosion in Istanbul auf eine Bombe oder einen Unfall zurückging. Nicht zuletzt deshalb wurde Selek dreimal freigesprochen – doch der Oberste Berufungsgerichtshof in Ankara hob die Freisprüche immer wieder auf. Selbst der zuständige Staatsanwalt sagte im vergangenen Jahr, er sei "schockiert" über die Haltung der Berufungsrichter. Das hielt ihn aber nicht davon ab, auf Weisung des Gerichts in Ankara erneut eine Verurteilung zu beantragen.

Erhebliche Zweifel gab es selbst im Gericht, das mit einem Stimmverhältnis von zwei zu eins das Urteil gegen Selek fällte. Der Vorsitzende Richter Vedat Yilmazabdurrahmanoglu stimmte für Freispruch und argumentierte, es gebe angesichts der widersprüchlichen Gutachten keine eindeutigen Beweise. Doch er wurde von seinen beiden Richterkollegen überstimmt. Einer von diesen, Mehmet Erdogan, hatte noch im vergangenen Jahr für einen Freispruch plädiert. Diesmal stimmte er für "schuldig". Warum, ist nicht bekannt.

Hoffen auf Europäischen Gerichtshof

Wie in der türkischen Öffentlichkeit stieß das Urteil auch bei europäischen Prozessbeobachtern auf Empörung. Der deutsche Journalist Günter Wallraff sieht "einen seit 1998 anhaltenden Versuch, Selek ohne jegliche Beweise zur Terroristin zu stempeln". Offenbar seien sowohl militärnahe als auch islamistische Kreise entschlossen, die Soziologin mundtot zu machen, sagte Wallraff im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Man will sich ihrer entledigen, denn sie ist eine Hoffnungsträgerin für eine andere, demokratischere Türkei." Wenn das Urteil Bestand habe, werde aus der Türkei "ein bekennender Unrechtsstaat", in dem jeder zu jeder Zeit unter Vorwänden unter Verdacht geraten und als völlig Unschuldiger zu lebenslanger Haft verurteilt werden könne. Deshalb seien Öffentlichkeit und Politik in Deutschland und anderen europäischen Staaten gefordert, sagt Wallraff.

Eingang des Gebäudes des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (Foto: picture alliance/JOKER)
Wird der Prozess in Straßburg landen?Bild: picture alliance/JOKER

Allerdings ist Pinar Selek bei weitem nicht die einzige prominente Kritikerin des Staates in der Türkei. Möglich ist deshalb auch, dass hohe türkische Richter am Schuldspruch gegen die Soziologin festhalten, weil eine Korrektur in ihren Augen ein Zeichen der Schwäche des Staates im Kampf gegen die PKK wäre. Umfragen zufolge sehen viele Richter ihre oberste Aufgabe nicht in der Suche nach der Wahrheit, sondern im Schutz des Staates gegen vermeintliche Gegner.

Wegen dieser Mentalität richten sich die Hoffnungen der Prozesskritiker auf den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Sie wolle, dass der Fall auf internationaler Ebene juristisch untersucht werde, sagte etwa die Abgeordnete Safak Pavey vom Reformflügel der Oppositionspartei CHP. Auch Anwaltsverbandschef Dogan rechnet damit, dass der Selek-Prozess in Straßburg landen wird. Zunächst einmal aber kommt auf die türkische Regierung eine heikle Aufgabe zu: Da das Istanbuler Gericht einen Haftbefehl gegen die derzeit in Frankreich lebende Selek erließ, wird Ankara möglicherweise schon bald darüber befinden müssen, ob ein Auslieferungsantrag an Paris gestellt werden soll – was neue unangenehme Fragen nach dem Zustand des Rechtsstaates in der Türkei auslösen dürfte.