Kritik an Erdogans Regierungsstil wächst weiter
5. Juni 2013Seit fast einer Woche halten die Unruhen in der Türkei nun schon an. Aber inzwischen geht es nicht mehr nur um die Bäume in einem Istanbuler Stadtpark - es geht um grundlegende demokratische Missstände im Land. Die Forderung der Mehrheit der Demonstranten: Premierminister Recep Tayyip Erdogan soll abdanken. Er ist seit zehn Jahren Regierungschef. Zweimal gewann seine islamisch-konservative Partei AKP die Wahlen - und zwar sehr souverän. Erdogans Popularität schien jahrelang ungebrochen. Und dem Land schien es gut zu gehen: Aufgrund der florierenden wirtschaftlichen Entwicklung galt die Türkei international als Musterschüler.
Die momentanen Unruhen im eigenen Land sind für Erdogan die ersten in einem solch gewaltigen Ausmaß. Aber überraschend seien sie nicht, sagt der türkische Journalist und Schriftsteller Cengiz Aktar im DW-Gespräch: "Die Regierung vermittelt den Eindruck, dass alles unter Kontrolle ist und gut läuft - in Wirklichkeit aber war nichts in Ordnung."
Erdogan ist die Zielscheibe - nicht die Partei
In den Slogans der Demonstranten könne man erkennen, dass sich alles nur um Erdogan drehe, nicht um seine Partei oder die gesamte Regierung, sagt Aktar. "Er greift in das Privatleben der Menschen ein. Zum Beispiel das Verbot von Lippenstift für die Flughostessen oder das Verkaufsverbot von Alkohol ab 22 Uhr abends - all das steht komplett konträr zum Lebensstil säkularer Türken", so Aktar. Die Regelungen und Gesetze seien zunächst gar nicht wahrgenommen worden, sagt der Journalist. "Als aber die Bevölkerung bemerkte, dass diese Gesetze tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden können, fingen die Menschen an zu verstehen, worum es da eigentlich geht."
Erdogans Versuch, die sozialen Strukturen umzuorganisieren und sein autoritärer Regierungsstil mit ihm als einzigem Entscheidungsträger des Landes, das seien die Hauptgründe für die Unruhen im Land, erklärt Aktar. Und der Unmut sei dann plötzlich bei einem so simplen Thema wie der Abholzung von Bäumen im Gezi-Park ausgebrochen.
"Eine junge und unparteiische Bewegung"
Für Gencer Özcan, Leiter der politikwissenschaftlichen Fakultät der Istanbuler Bilgi Universität, haben die Unruhen in der türkischen Bevölkerung bereits am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, begonnen. "Die Regierung hat die Maidemonstration am Taksim-Platz verboten, die für die links orientierte politische Bewegung von symbolischer Natur ist. Die Regierung hat den gesamten öffentlichen Transport in der Stadt gestoppt. Die Polizisten sind schon damals sehr gewaltsam gegen die Demonstranten vorgegangen", sagte der Professor der Deutschen Welle.
In den vergangenen Tagen gingen die Proteste weiter. Erdogan nannte die Demonstranten abwertend "Plünderer" - die Aktionen, so der Premier, würden von extremen Gruppen geleitet. Dem widerspricht der Journalist Aktar. "Es ist eine sehr junge, unparteiische, urbane Bewegung ohne politische Agenda und ohne Anführer." Die klassischen linken Gruppen seien immer mit dabei, repräsentierten aber nichts, sagt der Journalist angesichts der zahlreichen sozialistischen, kommunistischen und kurdischen Fahnen, die seit Tagen von Demonstranten geschwenkt werden. "Keine politische Bewegung oder Partei wäre im Stande, die Menschen auf dem Taksim-Platz, im Gezi-Park oder in anderen türkischen Städten zu manipulieren", meint Aktar.
Eine bunte Truppe
Auch Gencer Özcan empfindet das Zusammenkommen der Bürger als "weit gefächerte Demonstration". Alle möglichen Gruppen seien an den Protesten beteiligt, auch radikale Gruppen, so Özcan. "Aber das Rückgrat wird von jungen Menschen gebildet, die für ihre Rechte auf die Straßen gehen. Youngsters, Schüler und Studenten bilden den Kern dieser Demonstrationen", betont Özcan.
Die Oppositionsparteien seien bei der Teilnahme an den Protesten vorsichtig gewesen, erklärt Özcan. "Die kurdische Partei BDP ging von Anfang an nicht offiziell auf die Straße, weil sie der Meinung war, dass ihre Teilnahme sowohl den allgemeinen Frieden als auch den kurdischen Friedensprozess stören könnte. Auch die Unterstützer der nationalistischen Partei MHP wurden vom Parteivorstand angehalten, nicht auf die Straße zu gehen und sich an der Demonstration zu beteiligen", erklärt Özcan. Das Gleiche gelte für die republikanische Volkspartei CHP, die größte Oppositionspartei der Türkei, deren Anhänger sich ebenfalls nur als Privatpersonen an den Protesten beteiligten, so der Professor.
Nicht alle wollen Erdogans Rücktritt
Die Slogans, aber auch die Graffiti-Schriftzüge an den Hauswänden, Bushaltestellen und Straßen in vielen türkischen Städten spiegeln den Unmut der Bevölkerung wieder. "Tayyip istifa!" ("Tayyip trete zurück!") steht überall geschrieben und wird seit Tagen lautstark gerufen. Aber nicht alle wollen einen neuen Ministerpräsidenten. Vor allem von Seiten der Kurden macht sich ein ungutes Gefühl breit. "Wenn Erdogan zurücktritt, dann bedeutet das für uns Kurden nichts Gutes. Unsere Regierung befindet sich inmitten eines Friedensprozesses. Wenn sich die Regierung jetzt ändert, dann stehen der Nation wieder unfriedliche Zeiten bevor", so der Demonstrant Erhan Calahan, Mitglied der kurdischen Partei BDP im DW-Gespräch.
"Demokratie lebt"
Dem Journalisten Aktar zufolge muss die türkische Regierung verstehen, dass Demokratie keine ausklappbare Box sei, die man schließen könne, wann immer man wolle. "Demokratie lebt, funktioniert und drückt sich aus. Das nennen wir partizipatorische Demokratie. Die haben das offenbar nie gelernt", kritisiert Aktar die Regierungpolitiker. Er hoffe, dass sie es jetzt lernen.