Kritik an Indonesiens Pandemie-Management
23. Juni 2021"Jeden Tag hören wir jetzt ständig das Heulen der Sirenen von Krankenwagen", sagt der 38jährige Journalist Hendra. Grund sei die steigende Zahl von Covid-19-Infektionen in seinem Wohnort, der Stadt Depok in der Provinz West-Java. Er hat sich ebenso angesteckt wie sein Bruder und seine Nichte, alle drei haben sich in Quarantäne begeben.
Hendra berichtet, er habe versucht, Freunde und Verwandte auf die ernste Gefahr durch das Virus aufmerksam zu machen, sei aber teilweise auf taube Ohren gestoßen. Immer noch höre er die Meinung, dass es Covid gar nicht gebe, andere wiederum seien einfach der Sicherheits- und Hygiene-Regeln nach über einem Jahr Pandemie überdrüssig. "Ich bin sehr besorgt, denn jetzt ist Lage anders. Die neue Variante des Virus verbreitet sich viel leichter", sagt Hendra.
Knapp 15.000 Neuinfektionen - offiziell
In den vergangenen Wochen sind die Infektionszahlen in Indonesien stark angestiegen. Zum einen werden dafür die Inlandsreisen von Millionen Einwohnern zum Ende des Ramadan in dem mehrheitlich muslimischen Land verantwortlich gemacht. Zum anderen das Auftreten verschiedener Virus-Varianten, darunter die zuerst in Indien aufgetretene hochansteckende Delta-Variante.
Das südostasiatische Land registrierte am Montag mit 14.536 Fällen einen neuen Höchststand an Neuinfektionen. Bislang haben sich rund zwei Millionen der rund 270 Millionen Indonesier angesteckt, 55.000 sind im Zusammenhang mit Covid gestorben. Allerdings werden diese offiziellen Zahlen wegen der wenigen Testungen und schwacher Kontakterhebung als viel zu niedrig angesehen: Manche Experten glauben, dass sie nur zehn Prozent der tatsächlichen Fälle widerspiegeln.
Schärfere Einschränkungen gefordert
Angesichts der steigenden Infektionsfälle und des Zustroms von Patienten in die Krankenhäuser wird vor einem Zusammenbruch des indonesischen Gesundheitssystems gewarnt. Gesundheitsminister Budi Gunadi sagte kürzlich, dass bereits 90 Prozent der für Covid-Fälle reservierten Intensiv-Betten in Jakarta belegt seien. Auch in anderen schwer betroffenen Regionen auf Java stoßen die Krankenhauskapazitäten wegen der gestiegen Covid-Fälle an ihre Grenzen.
Erschöpftes Krankenhauspersonal ruft die Regierung unterdessen zu schärferen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf.
Insgesamt tragen die nachlässige Beachtung von Vorsichtsmaßnahmen wie dem Tragen von Atemschutzmasken und von Abstandsregeln sowie Vorbehalte gegen das Impfen zur Verschlechterung der Lage bei. Wie Airlangga Hartarto, Leiter des nationalen Covid-Krisenstabs, erläutert, setzt die Regierung seit Dienstag eine Politik der "Einschränkung von Aktivitäten auf Lokalebene" um, dies gilt zunächst bis 5. Juli. Betroffen sind sogenannte "rote Zonen" in West-, Zentral- und Ost-Java.
Die Maßnahmen beinhalten folgendes: Schulunterricht findet ausschließlich virtuell statt, Restaurants, Cafés und Imbissstände dürfen nur mit maximal 25 Prozent Belegung öffnen, und das auch nur bis acht Uhr abends. Drei Viertel der Beschäftigten in den Zonen müssen von zuhause aus arbeiten.
Der Epidemiologe Hermawan Saputra hält diese Maßnahmen für nicht ausreichend, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und die Infektionsketten zu unterbrechen. Er plädiert zusätzlich für das temporäre Verbot von Flugreisen und Transporten zwischen den Inseln, Maßnahmen, die bereits im vergangenen Jahr ergriffen wurden.
Fatales Abwarten
Auch die WHO hat schärfere Einschränkungen der Bewegung in Indonesien gefordert. Die Regierung hat zwar dementsprechende temporäre Verschärfungen in Jakarta und anderen Zentren des Infektionsgeschehens angekündigt, aber die Durchsetzung ist wenig effektiv.
Offensichtlich schrecken die Verantwortlichen davor zurück, durch allzu harte Maßnahmen zu riskieren, die Wirtschaft des Landes abzuwürgen. Gesundheitsexperte Saputra hält das aber gegenüber der DW für eine fragwürdige Strategie: "Das Zögern der Regierung vor radikalen Schritten wird zu mehr Verlusten führen und die Wirtschaft wird es noch schwerer haben sich zu erholen."
Epidemiologe Pandu Riono von der Universität von Indonesien hält von den aktuellen Maßnahmen ebenfalls wenig: Sie sähen gut auf dem Papier aus, aber enthielten wenig Konkretes zu ihrer Umsetzung und Überwachung. Riono kritisiert die Regierung wegen ihrer zu laschen Reaktion auf die zahlreichen Warnungen und Empfehlungen von Experten, um die Gesundheitskrise unter Kontrolle zu bekommen. Auch lerne sie nicht aus Erfahrungen der Vergangenheit.
Probleme bei Impfkampagne
Riono zufolge hat die indonesische Gesellschaft zwar noch keine Herdenimmunität erreicht, aber statt dessen "Herdendummheit", was sich an der Unterschätzung der Pandemie und an der verbreiteten Missachtung aller einschlägigen Sicherheits- und Hygieneregeln zeige.
Bis April nächsten Jahres sollen mindestens 70 Prozent der Bevölkerung, 180 Millionen Menschen, eine Impfung erhalten haben. Bislang ist der Fortschritt bei den Impfungen langsam: Erst zwölf Millionen Einwohner sind vollständig geimpft, 23 Millionen haben eine Erstimpfung erhalten.
Hinzu kommt, dass eine Reihe von Fällen schwerer Nebenwirkungen bei medizinischen Personal das Vertrauen in das chinesische Vakzin Sinovac erschüttert hat, auf das sich die indonesische Impfkampagne hauptsächlich stützt.
Umstrittene Öffnung von Schulen
Wie in anderen Ländern erwägt auch Indonesien teilweise die Rücknahme von Einschränkungen insbesondere für die besonders hart betroffenen Schulkinder. Dies stößt allerdings nicht überall auf Gegenliebe. Als die Behörden im März in einigen Regionen Präsenzunterricht an zwei Tagen in der Woche als Teil einer allmählichen Öffnung anordneten, waren viele Eltern besorgt. "Ich will meine Kinder nicht in die Schule schicken", sagt die 31jährige Retna Setyaningsih der DW. "Vor allem jetzt nicht bei den steigenden Zahlen. Nicht alle halten sich an die Gesundheitsregeln. Es ist auch sehr schwer, meinen Kindern das richtige Tragen der Masken beizubringen, sie mögen es nicht." Andere Eltern äußerten sich ähnlich.
Auch die Indonesische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (IDAI) teilte in einer Erklärung mit, sie empfehle die Öffnung der Schulen während der Pandemie nicht. IDAI-Präsident Aman B. Pulungan verwies darauf, dass die Körper von Kindern sich von denen Erwachsener unterschieden und dass die wenigsten Kliniken in Indonesien über Intensiv-Betten, die für Kinder geeignet seien, verfügten. Laut Pulungan entfallen rund 12,5 Prozent der bestätigten Covid-Ansteckungen auf Kinder und Jugendliche von 0-18 Jahren.