Kroatien auf dem Weg in die Einwanderungsgesellschaft
20. Oktober 2024Die Nachricht kam zur Unzeit: Ende August, mitten in der Tourismus-Saison, schlugen im Zentrum von Kroatiens Hauptstadt Zagreb drei junge Kroaten einen Arbeiter aus Indien zusammen. Einfach so. Weil er anders aussah.
In dem Land, in dem Arbeitskräfte chronisch rar sind, schlug der Übergriff hohe Wellen. Sogar Innenminister Davor Bozinovic von der national-konservativen Partei Kroatische Demokratische Gemeinschaft HDZ meldete sich zu Wort, verurteilte die Tat scharf und betonte, dass "keine Gewalt toleriert wird". Gleichzeitig forderte er die Bürger dazu auf, "Intoleranz und Vorurteilen zu widerstehen und jeden Verdacht auf ein Hassverbrechen zu melden" - und appellierte daran, "eine Gesellschaft aufzubauen, die auf Solidarität, Respekt und Nächstenliebe basiert".
Der Minister weiß, wie nötig solche Warnungen und Apelle sind: seit Jahren verzeichnet sein Ministerium einen Anstieg der Straftaten gegen Ausländer in Kroatien, insbesondere gegen ausländische Arbeiter. Während 2022 insgesamt 228 solche Taten registriert wurden, vervielfachte sich die Zahl im vergangenen Jahr auf 1150. Und schon in den ersten sieben Monaten dieses Jahres verdoppelte sie sich erneut.
Einwanderung aus dem Süden Jugoslawiens
Dass es in Kroatien viele ausländische Arbeiter gibt, ist kein neues Phänomen. Schon zu den Zeiten Jugoslawiens nach dem Zweiten Weltkrieg kamen in die wirtschaftlich verhältnismäßig gut entwickelte Teilrepublik viele Arbeiter aus anderen Teilen des gemeinsamen Staates: aus Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien oder Serbien. Sie wurden allerdings in der Regel nicht als Fremde angesehen, da die meisten von ihnen sich in Kroatien sprachlich problemlos verständlich machen können und mehr oder weniger zum gleichen Kulturkreis wie die Kroaten gehören.
Als das infolge des Zerfalls Jugoslawiens und der Kriege in den Nachfolgestaaten seit 1991 unabhängige Kroatien 2013 Mitglied der EU wurde, verstärkte sich die schon seit den 1960er Jahren laufende Arbeitsauswanderung gen Westen. Allein in den vergangenen zehn Jahren verließen etwa 400.000 Kroaten das Land, überwiegend Richtung Deutschland, Österreich und Irland. Gleichzeitig kamen immer mehr ausländische Arbeitskräfte nach Kroatien.
12 Prozent der Erwerbsbevölkerung
Laut offiziellen Statistiken wurden im Jahr 2021 mehr als 80.000 Arbeitserlaubnisse für ausländische Arbeitnehmer erteilt. 2023 war diese Zahl bereits auf 174.000 gestiegen, 2024 könnten es Schätzungen zufolge sogar 200.000 werden. Sehr viel für ein Land mit 3,8 Millionen Einwohner: Gemessen an rund 1,7 Millionen Beschäftigten in Kroatien, entspricht dies 12 Prozent der aktiven Erwerbsbevölkerung.
Etwa die Hälfte der rund 159.000 bis Ende September 2024 ausgestellten Arbeitsgenehmigungen erhielten Arbeitnehmer aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Eine andere Gruppe dagegen ist in Kroatien neu: Arbeiter aus Nepal, Indien, den Philippinen, Bangladesch, Usbekistan und Ägypten.
Da es sich bei den meisten dieser Arbeitsmigranten um gering qualifizierte Arbeitskräfte handelt, die sich überwiegend auf dem Bau, in der Gastronomie oder als Fahrradboten betätigen, werden sie von der einheimischen Bevölkerung meist nicht als wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen. Vielen Kroaten ist bewusst, dass inzwischen ohne die Zuwanderer große Teile der kroatischen Wirtschaft nicht mehr funktionieren würde - allen voran die extrem wichtige Tourismus-Branche.
Angst von Überfremdung
Weniger positiv werden die Neuankömmlinge bezüglich Kultur und Identität sowie Sicherheit gesehen, erklärt der DW Vedrana Baricevic, Professorin an der Fakultät für Politikwissenschaften in Zagreb: "Untersuchungen zeigen, dass der Teil der Öffentlichkeit, der Einwanderung als Problem wahrnimmt, Menschen bevorzugt, die aus Ländern und Kulturen kommen, die er für kulturell ähnlich hält - also Menschen aus der Nachbarschaft Kroatiens, z.B. Bosnien und Herzegowina oder Serbien. Sie werden eher akzeptiert als diejenigen, die aus Kulturen kommen, die man als fern oder fremd erlebt", sagt Baricevic.
Insbesondere Muslime gelten vielen in Kroatien als rückständig und potenziell gefährlich - vor allem, wenn sie nicht aus Nachbarländern kommen. Aber auch gegenüber Einwanderern aus Nepal, Indien oder den Philippinen herrsche Skepsis, ob sie in die Gesellschaft und Kultur Kroatiens integriert werden können, so Baricevic.
Gewalt gegen Ausländer
Der Anstieg der Straftaten gegen ausländische Arbeiter ist für Lucija Mulalic vom Zentrum für Friedensstudien in Zagreb keine Überraschung. "An den Grenzen zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina kommt es schon seit Jahren zu Gewalt gegen Flüchtlinge", erklärt die Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation, die Migranten in Kroatien unter anderem mit kostenlosem Rechtsbeistand unterstützt.
Gewalt gegen "Fremde" sei zum Normallfall geworden. Dass mittlerweile die Opfer häufiger ausländische Arbeitskräfte sind, liege daran, dass ihre Zahl gewachsen sei und sie dadurch sichtbarer geworden seien. "Aber im Grunde genommen ist es die gleiche Art von Gewalt, nur der Fokus hat sich verändert", so Mulalic im DW-Interview.
Es sei die Polizei, also die Institution des Staates, die gewaltsam gegen die Flüchtlinge vorgehe - und die politische Spitze ignoriere die Gewalt gegen als "Andere" abgestempelte Menschen. "Eine Verurteilung seitens der Politik ist in der Öffentlichkeit nicht zu erkennen, es kommt auch zu Hetze seitens der politischen Parteien", so Mulalic. "Das begünstigt die ausländerfeindliche Stimmung."
Gefährdete Gruppe
Obwohl ausländische Arbeitnehmer in Kroatien formal ähnliche Rechte haben wie einheimische Arbeitnehmer, sind sie in der Realität stark benachteiligt. Ihr Aufenthalt ist nicht nur an eine Arbeitserlaubnis, sondern auch an eine Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber gebunden. Die Genehmigungen werden für ein Jahr ausgestellt und müssen danach erneuert werden.
Wenn die "Gastarbeiter" ihren Arbeitsplatz verlieren, haben sie 14 Tage Zeit, sich einen neuen zu suchen - andernfalls verlieren sie ihre Aufenthaltserlaubnis. Dies öffnet der Diskriminierung Tür und Tor.
"Die Menschen wollen sich nicht beschweren, etwa wenn ihre Gehälter zu spät kommen, Überstunden nicht bezahlt oder sie am Arbeitsplatz diskriminiert werden, weil sie Angst haben, ihren Arbeitsplatz und damit auch ihren Wohnsitz zu verlieren", sagt Mulalic. "Sie haben Angst wegen der Verletzlichkeit ihres Status."
Deutsche Fehler werden wiederholt
Da Kroatien sich bisher nicht als Einwanderungsland sieht, werden ausländische Arbeitnehmer in erster Linie als vorübergehend im Land lebende Arbeitskräfte gesehen. Dies führt zur Abschottung in ihren Communitys, besonders bei Arbeitsmigranten aus Asien. "Kontakte zur einheimischen Bevölkerung sind selten", berichtet Mulalic.
Anstatt aus den Erfahrungen der Kroaten zu lernen, die seit den 1970er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland und andere Länder Westeuropas gingen, wiederholt man die Fehler, die dort gemacht wurden. "Deutschland hat so getan, als wären die Menschen nur vorübergehend gekommen und hat nicht an ihre Integration in die Gesellschaft gedacht. Wir in Kroatien führen nun diese Politik fort, aus der eigentlich zu lernen wäre, wie man es nicht machen soll", sagt Mulalic.
Ein Schlüsselfaktor bei der Integration sei - wie in Deutschland - das Erlernen der Sprache. Aber "öffentlich finanzierte Sprachlern- und Integrationsprogramme stehen nur anerkannten Flüchtlingen zur Verfügung - und sind zudem sehr mangelhaft", betont Vedrana Baricevic. Dass die ausländischen Arbeitskräfte in Kroatien bisher nicht wirklich als Menschen gesehen würden, zeige auch die Redewendung "Import ausländischer Arbeitskräfte".
Nun scheint aber Bewegung in die Sache zu kommen: In einem neuen Ausländergesetz soll es auch um Integrationsmaßnahmen gehen - und um die Bedürfnisse der Gastarbeiter als Menschen.