Nach dem Erdbeben: Kroatiens schneeweißes Katastrophengebiet
28. Januar 2021Kaum hat der Schneepflug die Schneeberge von der Straße geräumt, da fallen schon die nächsten Flocken. Sie verwandeln die Region Banija in Zentralkroatien in eine idyllische weiße Winterlandschaft - versperren aber zugleich die Zufahrt nach Švrakarica, einem Dorf rund 50 Kilometer entfernt von der Stadt Sisak.
Der Weg muss unbedingt freigeräumt werden. Im Dorf wartet die fünfköpfige Familie Ognjenović bereits sehnlichst auf das mobile Haus auf dem Anhänger mit den kleinen Rädern, das von dem Traktor hinter dem Räumfahrzeug mühselig durch den Schnee gezogen wird. Dahinter fahren zwei Autos mit Hilfsgütern, die von guten Menschen im niederländischen Rotterdam gesammelt und ins kroatische Erdbebengebiet geschickt wurden.
Mit nicht mehr als 20 Kilometern pro Stunde bewegt sich der kleine Konvoi Stückchen für Stückchen auf Švrakarica zu. Doch kurz vor dem Ziel, auf der Anhöhe, die zum höchsten Punkt des kleinen Dorfes führt, muss der Schneepflug halten. Zwangsweise bleibt auch der Traktor mit dem mobilen Häuschen im Schlepp stehen.
Ein weiterer Traktor versucht, den Anhänger anzuschieben. Vergeblich. Stattdessen fallen nun auch noch die kleinen Räder unter dem mobilen Haus ab. Die Nacht bricht ein, die Kolonne kann weder vorwärts noch zurück.
Das Häuschen schafft es nicht ins Dorf
Hinter dem Schneepflug, den Traktoren und dem Häuschen wartet in seinem Auto ein Tierarzt. Er ist auf dem Weg zu einer Kuh, die kurz vor dem Kalben ist. Dahinter steckt ein Kombi fest, der die in der hügeligen Landschaft der Banija verstreuten Dörfer mit Obst, Gemüse und anderen lebensnotwendigen Gütern versorgen soll.
Der Schneepflug fährt rückwärts, versucht einen Platz zu finden, wo er die Traktoren und das mobile Häuschen nicht blockiert. Nach etwa einer Stunde gelingt das endlich. Trotzdem muss das Haus hierbleiben, bis der Schnee taut. Ohne Räder gibt es keine Möglichkeit, es weiter zu transportieren. Die humanitäre Hilfe aus Rotterdam wird zu Fuß ins Dorf getragen.
Verängstigte Kinder
Die Familie Ognjenovićs lebt in der dritten Generation in ihrem über hundert Jahre altem Haus. Doch durch das Erdbeben wurde das Gebäude schwer beschädigt. Die Grundmauern und das Dach haben Risse, am Haus klebt ein roter Aufkleber der kroatischen Behörden - was heißt, dass das Haus für Milan und Martina Ognjenović und ihre drei Kinder, den sechs Jahre alten Mićo, den vierjährigen Tin und die drei Monate alte Milica, nicht mehr bewohnbar ist.
"Alles, was herunterfallen konnte, ist heruntergefallen. Vieles ging zu Bruch und ist nun nicht mehr benutzbar. Die Kinder haben sich sehr erschrocken und geweint. Sie sind noch immer völlig verängstigt", erinnert sich der 27-jährige Milan Ognjenović an den 28. Dezember 2020. An jenem Montag um 6 Uhr 28 bebte es zum ersten Mal. Die Erschütterungen hatten die Stärke 5.0 auf der Richterskala. Um 12 Uhr 19 folge ein zweites Beben, diesmal mit der Stärke 6,2.
Unterkunft bei der Nachbarin
Aus Angst vor weiteren Beben verbrachten die Ognjenovićs - wie die meisten Bewohner der Banija - die ersten Nächte nach dem Beben in ihrem Auto. Immerhin kam bald Hilfe für die Betroffenen: Mitbürgerinnen und Mitbürger aus ganz Kroatien brachten Nahrung, Kleidung, Schuhe, Windeln und andere Hygieneartikel in die Katastrophenregion.
Auch Stoja Roksandić, die Nachbarin der Ognjenovićs, kam so schnell sie konnte ins Dorf. Sie lebt sowohl in Švrakarica als auch in der bosnischen Stadt Banja Luka. Stoja nahm Milan, Martina und die drei Kinder in ihrem fast unzerstörten Haus auf. "Es ist warm und geräumig hier, die Kinder sind sicher", sagt Martina, die wie ihr Mann 27 Jahre alt ist, "zumindest soweit irgendetwas sicher sein kann, wenn es um Erdbeben geht."
Eine arme Gegend
Martina und Milan Ognjenović sind die jüngsten Erwachsenen in Švrakarica. Außer ihnen leben hier nur etwa 15 ältere Menschen. Sie betreiben Landwirtschaft, besitzen ein paar Schafe und Ziegen sowie etwas Land, das sie bewirtschaften. Die Gegend ist arm. "Das Leben hier ist zwar schwer, aber wer arbeiten möchte, kann ganz passabel leben", erklären Martina und Milan, "wir haben mit ein paar Ziegen angefangen, mittlerweile haben wir zudem eine kleine Schafsherde."
Die Ognjenovićs gehören zur serbischen Minderheit in Kroatien. Ende des Krieges (1991-95) waren sie ins benachbarte Bosnien und Herzegowina geflohen. Im Jahr 2000 kamen sie zurück. "Die Entscheidung fiel uns nicht schwer, wir konnten es kaum abwarten, zurückzukehren", erzählt Milan. Die ersten zwei Jahre seien nicht einfach gewesen: "Das Haus war zerstört, wir mussten bei Null anfangen. Vom Staat bekamen wir nur die Treppe und die Holzverkleidungen innen bezahlt."
Achtzig Kilometer bis zum nächsten Krankenhaus
Die Landschaft der Banija erinnert an ein Bild aus einer Reisebroschüre, die zum Winterurlaub einlädt: Schneebedeckte Hügel, romantische alte Holzhäuser, dazwischen ein paar Schafe. Die Realität aber ist weit weniger idyllisch. "Wir sind zwanzig Kilometer vom nächsten Lebensmittelladen entfernt", erklärt Milan, "und bis zum nächsten Krankenhaus sind es achtzig Kilometer. Wenn es hier schneit, sind wir oftmals tagelang von der Außenwelt abgeschnitten."
Die Geschichte der Ognjenovićs hat die Mitglieder der kroatischen Non-profit Stiftung "Solidarna" sehr berührt. Sie haben Spenden gesammelt, um der jungen Familie aus Švrakarica ein mobiles Haus zu schenken. Es ist jenes Häuschen, das einige Hundert Meter vor dem Dorf im Schnee stecken geblieben ist und nun auf das Tauwetter wartet.
Trotzdem ist Familie Ognjenović überwältigt von der Hilfe, die sie in den Wochen seit jenem 28. Dezember erhalten haben. Auch über das geschenkte Häuschen freuen sich Martina, Milan und die Kinder sehr. Sobald der Schnee es zulässt, wollen sie es ins Dorf holen und als Übergangsunterkunft einrichten. Den Traum, ihr altes Haus wieder aufzubauen und wieder dort einzuziehen, geben sie nicht auf.