Der Prozess gegen Veit Harlan
5. Juni 2009Veit Harlan muss sich seiner Vergangenheit stellen. So sieht es jedenfalls 1949 aus, als das Hamburger Landgericht den Prozess gegen ihn eröffnet. Veit Harlan, die Symbolfigur des nationalsozialistischen Unterhaltungskinos, wird beschuldigt, mit seinem 1940 uraufgeführten, antisemitischen Film "Jud Süss" als psychologischer Wegbereiter des Holocausts gewirkt zu haben. Der Kinostreifen gilt als Paradebeispiel der nationalsozialistischen Propaganda: ausgefeilte Technik, eine Liebesgeschichte und antisemitische Feindbilder. Das Ergebnis: ein unheilvolles Gemisch aus Gewalt und Faszination.
"Ich erinnere mich genau, wie zerschmettert ich aus diesem Kino herauskam", sagt der Journalist und Buchautor Ralph Giordano, der "Jud Süss" 1940 im Kino gesehen hatte. Er sei danach mit einem seiner besten Freunde nach Hause gegangen. "Dann hat er einen Satz ausgesprochen, der mich wirklich tief getroffen hat. Er sagte: Irgendetwas muss doch an den Juden dran sein!"
"Politisch unbelasteter" Regisseur des Dritten Reichs
Nach Kriegsende will Harlan so schnell wie möglich ins Filmgeschäft zurück. Als Vertreter des Schaugewerbes im NS-Staat braucht er dafür eine so genannte "Unbedenklichkeitserklärung". Harlan wird nach dem alliierten Kontrollratsgesetz in die Gruppe 5 eingestuft, das heißt "politisch unbelastet". Der Öffentlichkeit bleibt Harlans offizielle Entnazifizierung nicht verborgen. Es kommt zu Protesten und er wird angezeigt.
Als erster und auch einziger Künstler muss sich Harlan für seine Arbeit während der NS-Diktatur juristisch verantworten. Doch es gelingt ihm, sich vor Gericht als unpolitischen Künstler darzustellen. Harlan wird freigesprochen. Kurz darauf dreht er seinen ersten Nachkriegsfilm "Unsterbliche Geliebte".
Hungerstreik gegen Harlan
Für den Publizisten Erich Lüth ist das ein Skandal. Er ruft in einem offenen Brief zum Boykott von Harlan-Filmen auf. "Ich bin der Auffassung", so der Sprecher des Hamburger Senats, "dass Politiker und Journalisten immer auf die Barrikaden zu gehen haben, wenn es notwendig ist, Dinge in Bewegung zu setzen." In vielen Städten der noch jungen Bundesrepublik kommt es zu Demonstrationen. Es sind zumeist jüngere Leute, die gegen die Aufführung des Harlan-Films mit Kundgebungen, Fackelumzügen und sogar mit Hungerstreiks protestieren. Teile des deutschen Gewerkschaftsbundes solidarisieren sich mit ihnen, der Westberliner Senat verbietet sogar die Kino-Aufführung von Harlan-Filmen.
1950 eröffnet Erich Lüth die "Woche des deutschen Films" mit deutlichen Worten. "Nachdem der deutsche Film im Dritten Reich seinen moralischen Anspruch verwirkt hatte, ist allerdings ein Mann am wenigsten geeignet, diesen Ruf wiederherzustellen. Das ist der Drehbuchverfasser und Regisseur des Films 'Jud Süss', Veit Harlan". Es folgt die Aufforderung an Filmverleiher und Kinobesitzer, Harlans Filme nicht mehr zu zeigen.
Meinungsfreiheit versus Geschäftsinteressen
Dessen Produktionsfirmen versuchen, Erich Lüth zivilrechtlich zu belangen. Das gelingt ihnen zunächst mit Erfolg. Am 22. November 1951 verbietet das Hamburger Landgericht den Boykott-Aufruf. In der Entscheidung heißt es, bei dem Appell handle es sich um eine "sittenwidrige Boykottaufforderung". Zudem muss Lüth die Kosten des Verfahrens tragen. Ende 1952 wird Harlans nächster Film "Hannah Amon" aufgeführt. Es folgen eine Ehekomödie, ein zweiteiliges Ceylon-Abenteuer und weitere Filme. Doch in den Medien werden Harlans Kinowerke kaum besprochen. Schließlich fällt das Bundesverfassungsgericht 1958 ein Grundsatzurteil zugunsten von Erich Lüth: Der Boykottaufruf gegen Harlans Filme war rechtens. Laut oberster deutscher Instanz wird das Recht auf Meinungsfreiheit höher bewertet als die Geschäftsinteressen einzelner.
Autor: Michael Marek
Redaktion: Ramon Garcia-Ziemsen