Wie die Kolonialgeschichte Berlin und Lissabon verbindet
12. Mai 2018"Dies ist ein Versuch, nicht nur über Kolonialismus zu sprechen", sagt der portugiesische Künstler Marcio Carvalho im Interview mit der DW, "sondern auch allgemein über Erinnerung, und darüber, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen". Am Samstag zeigte der Künstler den zweiten Teil seiner Performanceserie namens "Demythologize That History and Put it to Rest" im Berliner Tiergarten.
Das Projekt, das Carvalho mit neun anderen internationalen Künstlern zusammenbringt, wird bis September zwischen Berlin und Lissabon hin- und herreisen. Thema ist das Konzept hinter kollektiver und individueller Erinnerung im Kontext von öffentlichen Flächen und Monumenten. Eine Serie öffentlicher Interventionen wird vor Denkmälern wichtiger historischer Persönlichkeiten des späten 19. Jahrhunderts abgehalten. Darunter sind Denkmäler vom ersten Kanzler des Deutschen Reiches, Otto von Bismarck, sowie König Karl I. von Portugal. "Ich versuche, diese Objekte zu 'entmonumentaliseren'", erklärt der 36-jährige Künstler.
Den beiden Staatsmännern wird in dem Projekt deshalb viel Gewicht gegeben, weil sie eine bedeutende Rolle bei der europäischen Kolonisierung von Afrika spielten. Es geht dabei auch um die Frage, wie heutzutage mit diesem Erbe umgegangen wird. Dem 1901 eingeweihten Bismarck-Denkmal wird nachgesagt, dass es vor allem die guten Seiten des Politikers hervorhebe. Ein Atlas, der die Weltkugel auf seinem Rücken trägt, betont die überragende Macht von Bismarck, während ein über einer ägyptischen Sphinx drapiertes Orakel seine spirituelle Bedeutung unterstreicht.
Denkmäler vom Sockel stoßen
Carvalho glaubt, dass Bismarck deshalb als Sieger dargestellt wird, "weil er und seine Kameraden die Geschichte geschrieben haben - wie Winston Churchill sagte: 'die Geschichte wird mich nett beurteilen, weil ich nämlich derjenige bin, der sie schreiben wird.' Also ist das Denkmal mit Sicherheit auch ein Symbol für Gewalt".
Andere Kritiker bemängeln, dass das Denkmal ohne historischen Kontext dastehe und somit eine eurozentrische Sicht auf die Kolonialgeschichte präsentiere, die die Auswirkungen von Gewalt, Rassismus und Imperialismus auf die afrikanischen Gesellschaften der damaligen Zeit ignoriere.
Und diese Sicht der Dinge ist es, die Carvalho in Frage stellen will. "Es ist sehr interessant, diese Objekte mit Blick auf die Darstellung des Kolonialismus zu betrachten. In Portugal glaubt man, dass die Portugiesen unter den Kolonialisten nicht die schlechtesten gewesen sein können, dass wir sogar die besten unter den Bösewichten waren. In Deutschland wiederum wissen viele Leute so gut wie nichts über ihre koloniale Vergangenheit."
Für den in Berlin beheimateten Künstler, dessen Familie aus Portugal und Angola stammt, ist das Projekt auch eine persönliche Mission. "Mein Hintergrund ist gemischt. Unsere angolanischen Wurzeln gehen auf das späte 19. Jahrhundert zurück, und die Vorfahren meines Vaters waren Schwarze und Weiße. Also habe ich meinen Eltern eine Menge Fragen gestellt. Und dann ging ich nach Lissabon, wo ich mir all diese Denkmäler ansah."
Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln
Dort begann der Künstler, den "Machträumen", wie er sie nennt, mehr Aufmerksamkeit zu schenken, also öffentlichen Flächen und Denkmälern, die jedoch keinen historischen Kontext aufweisen.
Ein spezieller Kontext, der beiden Statuen fehlt, ist die Beziehung zwischen König Karl I. und dem Deutschen Reichskanzler. Und genau diese Beziehung hatte seiner Meinung nach erhebliche Auswirkungen auf Afrika. Im kolonialgeschichtlich besonders bedeutsamen Jahr 1884 bat König Karl I. Bismarck darum, in Berlin eine große Konferenz abzuhalten, wo sich einige europäische Staatsmänner treffen sollten, um Angelegenheiten der rohstoffreichen Kongo-Region zu besprechen. Ohne, dass dies wirklich vorher so geplant wurde, entwickelte sich die Berliner Konferenz zum Startschuss für den europäischen Kolonialismus in Afrika, den sogenannten "Scramble for Africa". Die europäischen Kolonialmächte (Großbritannien, Frankreich, Portugal, Belgien, sowie für kurze Zeit Italien und Deutschland) teilten sich den Kontinent untereinander auf und schufen Grenzen, die zum größten Teil bis zum heutigen Tag existieren.
Portugiesen haben falsches Bild von der Kolonialzeit
"In Portugal beginnen viele Menschen, sich mehr Gedanken über ihre koloniale Vergangenheit zu machen. Aber bislang habe ich von keinem Projekt gehört, das den Zusammenhang zwischen Portugal und Deutschland thematisieren würde", sagt Carvalho. "Aber es war Karl I. mit seiner Bitte an Bismarck, eine Konferenz zum Kongo abzuhalten, die letzten Endes die Berliner Konferenz "auslöste" und damit den sofortigen Beginn der Kolonisierung einleitete."
Die Serie, die von der Berliner Galerie Savvy Contemporary unterstützt wird, begann im April mit einer Performance des kamerunischen Künstlers Christian Etongo. Er selbst sieht sich als Künstler, der die Reise zwischen dem Flüchtigen und dem Ewigen erforscht. Etongo performt ein spirituelles Ritual namens Tso. Hier wird die Person, die gelitten hat, dazu verpflichtet, zu verzeihen, sodass die Zukunft besser gestaltet werden kann.
Das Event am Samstag war eine Kollaboration mit den in der Schweiz lebenden irakischen Künstlern Ali Toffan und Wathiq Gzar, die ihre Tonskulpturen von Bismarcks Kopf vor das Denkmal legten, zusammen mit Texten über Verbindungen zwischen Bismarck und Hitler, sowie über das Sykes-Picot Abkommen. Die Texte wurden an das Denkmal geheftet.
(Anmerkung der Redaktion: Das Sykes-Picot Abkommen von 1916 war eine geheime Übereinkunft zwischen Großbritannien und Frankreich, die sich untereinander Interessensgebiete im Nahen Osten aufteilten, da sie den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs erwarteten).
Neuer Blick auf die Kolonialgeschichte
Der nächste Aufenthaltsort von Carvalho wird Lissabon sein, wo er am 18. Mai mit dem angolanischen Künstler Kiluanji Kia Henda zusammentrifft. Ebenfalls dort präsent sein werden Angela Ferreira, eine Künstlerin und Bildhauerin aus Mosambik, und die in Berlin residierende Künstlerin Nathalie Bikoro aus Gabon.
Carvalho möchte sein Projekt ausweiten und auch mit Menschen außerhalb der Kunstwelt zusammen arbeiten. Da sich Denkmäler nicht transportieren lassen, wird er mit Performances arbeiten. Das sei eine perfekte Ergänzung zum Statischen der Figuren, sagt er. Über Generationen seien die Denkmäler in Stein gemeißelt gewesen. Jetzt sei es an der Zeit, ihnen etwas hinzuzufügen: einen Kontext, der einen neuen Blick auf ihre Geschichte ermöglicht. Und ihnen damit eine neue Rolle für die Zukunft gibt.