"Kämpfen, bis die NATO vertrieben wird"
24. Januar 2013So mancher deutsche Soldat, der in der Türkei im Rahmen des Patriot-Einsatzes seinen Dienst angetreten hat, mag etwas verwirrt sein. Erst fordert die türkische Regierung den Beistand der NATO-Bündnispartner gegen mögliche Raketenangriffe aus dem Unruheland Syrien, doch kaum treffen die westlichen Soldaten in der Türkei ein, werden sie mit Protesten empfangen und erleiden sogar tätliche Angriffe. Seit Wochen organisiert eine politisch bunt zusammengewürfelte Protestbewegung aus Nationalisten, Kommunisten und Islamisten ihre Demonstrationen gegen die Stationierung von Patriot-Raketen in der Türkei.
Der Angriff auf die Bundeswehrsoldaten in Iskenderun am 22. Januar 2013 markierte den vorläufigen Höhepunkt. "Wir kämpfen, bis die NATO-Soldaten aus unserem Land vertrieben worden sind", kommentierte Cagdas Cengiz, Vizechef der rechtsgerichteten Organisation Union der türkischen Jugend (TGB), das Ereignis während einer Aktion vor dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul. "Wir haben euch gewarnt", sagte Cengiz an die Deutschen gerichtet. "Aber ihr habt nicht gehört."
Säcke als Symbole
TGB-Mitglieder, unter Führung des Vorsitzenden Ilker Yücel, hatten zuvor in Iskenderun zwei Bundeswehrsoldaten mitgebrachte Säcke über den Kopf gezogen. Damit spielten die Nationalisten auf einen Zwischenfall an, der sich nach der US-Invasion im Irak von 2003 ereignet hatte. Damals nahmen US-Truppen im Nordirak einige türkische Soldaten fest und stülpten ihnen Säcke über die Köpfe. Türkische Nationalisten haben das den Amerikanern bis heute nicht verziehen.
Die Form des Proteste machte deutlich, dass die Bundeswehr in der Türkei in den Strudel eines aggressiven Antiamerikanismus gerät, der nach Umfragen und Aussagen von Experten weit verbreitet ist. "Antiamerikanische Einstellungen durchdringen inzwischen die ganze türkische Gesellschaft", sagt die Istanbuler Politologin Füsun Türkmen im Gespräch mit der DW.
Potenziell schwierige Lage für die Regierung
Als der German Marshall Fund vor einigen Monaten in einer Umfrage die Beliebtheit der USA in Europa und Russland erforschte, wurde deutlich, dass nur 34 Prozent der Türken eine positive Haltung gegenüber den USA einnehmen; nur einer von vier Türken wünscht sich eine internationale Führungsrolle Washingtons. Mit Blick auf die NATO ergab sich ein ähnliches Bild. Lediglich 38 Prozent der Türken sind der Meinung, das Bündnis werde noch gebraucht. In der EU und in den USA liegen die Zustimmungsraten zur NATO gut 20 Prozentpunkte höher.
Für die Regierung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ergaben sich daraus bisher keine Probleme. Erdogan kommt mit US-Präsident Barack Obama hervorragend aus, die türkisch-amerikanischen Beziehungen sind so gut wie schon lange nicht mehr. Doch sollten sich die Proteste gegen den von Ankara selbst angeforderten NATO-Einsatz ausweiten, könnte Erdogan gegenüber seinen westlichen Verbündeten in Erklärungsnot geraten. Bereits nach dem Zwischenfall von Iskenderun musste sich Ankara heftige Kritik und Warnungen der deutschen Bundesregierung anhören.
Protestaktionen dürften anhalten
Noch ist die türkische Protestbewegung klein und vor allem an den Rändern des politischen Spektrums beheimatet. Allerdings wurde die TGB in Iskenderun - einer eigenen Stellungnahme zufolge - von Refik Eryilmaz, einem Parlamentsabgeordneten der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi), unterstützt. Die CHP ist die größte Oppositionspartei der Türkei.
Im bald beginnenden Wahlkampf in der Türkei - 2014 und 2015 stehen Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an - werden Erdogans Gegner möglicherweise versuchen, die anti-westliche Stimmung für sich auszunutzen. Die TGB kündigte jedenfalls weitere Protestaktionen an. Angesichts der Proteste will auch die türkische Regierung die NATO-Patriots so schnell wie möglich wieder loswerden. Sollte die von Syrien ausgehende Gefahr vorüber sein, würden die NATO-Waffen die Türkei wieder verlassen - "noch am selben Tag, ja, noch in derselben Stunde", sagte der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu in einem Interview für das Fernsehen seines Landes.