Labour: Der kleine Sieg der Europafreunde
25. September 2018So anhaltend donnernden Applaus wie beim Parteitag in Liverpool hat Keir Starmer, in Jeremy Corbyns Schattenkabinett für den Brexit zuständig, wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nicht bekommen: "Thank you, conference", rief der ansonsten eher trockene Jurist, als sich die Genossen partout nicht setzen wollten. Wahrscheinlich hat Starmer, der gesetzestreue ehemalige Generalstaatsanwalt, auch noch nie etwas so Verrücktes getan wie in Liverpool: Er ist vom seinem Redetext abgewichen.
"Niemand schließt aus, dass der Verbleib in der EU eine Option für uns ist." Ein eingeschmuggelter Halbsatz, der es in sich hat. Denn ob sich Labour für ein zweites Referendum einsetzt, und inwieweit sich die Partei dafür einsetzen soll, den Brexit zu verhindern, ist das bestimmende Thema dieses Parteitags. Und es besteht keinesfalls Einigkeit darüber, auch wenn sich die Delegierten mit großer Mehrheit für die Option eines zweiten Referendums aussprechen. John McDonnell beispielsweise, Corbyn-Vertrauter und Schatzkanzler im Schattenkabinett, hatte es noch am Tag zuvor explizit ausgeschlossen, den Brexit rückgängig zu machen. Und Jeremy Corbyn selbst, der neundundsechzigjährige Parteichef, der dem linken Flügel von Labour angehört, ist wahrlich kein Freund der EU: Er hatte sowohl gegen den Maastricht- als auch den Lissaboner Vertrag gestimmt.
Sehnsucht nach dem Kurswechsel
Starmers Abweichung legt die Uneinigkeit in der Parteispitze offen - und der wilde Applaus der Mitglieder zeigt, wie sehr sich viele von ihnen nach einer Kursänderung sehnen: Über achtzig Prozent der Labour-Basis ist nach einer neuen Umfrage für eine zweite Volksabstimmung zum Brexit. Auch die Labour-Abgeordneten im Unterhaus hatten sich bei der Volksabstimmung vor zwei Jahren fast ausnahmslos für den Verbleib Großbritanniens in der EU eingesetzt. Die EU-Aktivisten, die in großer Zahl vor dem Konferenzzentrum die Delegierten abfangen, um ihnen Flugblätter und Aufkleber mit der Aufschrift "Zeigt dem Brexit Euren blanken Hintern" ("Bollocks to Brexit") in die Hand zu drücken, haben leichtes Spiel. Demonstrant Stephen Bray steht mit seinen EU-Flaggen normalerweise vor dem Unterhaus in London: "Die Parteitage sind unsere letzte Chance, den Brexit zu beeinflussen". Auch habe er versucht, Jeremy Corbyn einen Aufkleber in die Hand zu drücken, aber der hatte keine Zeit für ihn.
Simon Hannah aus London ist einer der vielen Delegierten, die mit Stephen Bray übereinstimmen. Vor allem die negativen Auswirkungen des Brexit auf die Wirtschaft machen ihm Sorgen. Hannah ist auch Mitglied von Momentum, einer Corbyn-treuen Basisorganisation, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt - und einer derjenigen, der Keir Starmer stürmisch applaudiert hat. "Love Corbyn - Hate Brexit" steht auf seiner Umhängetasche. Bei aller Verehrung für den Chef, der es geschafft hat, Labour zu einer der mitgliederstärksten Parteien in Europa zu machen: Dessen Position zur EU hält er für untragbar. Simon Hannah will den Brexit verhindern. Das Argument, es könnten sich dann Wähler von Labour abwenden, die vom Brexit überzeugt sind, lässt er nicht gelten - dafür könne die Partei dann neue Stimmen aus dem Lager der Pro-Europäer hinzugewinnen, findet er.
John Davies, Delegierter aus Liverpool, widerspricht: Obwohl er bei der Brexit-Abstimmung für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, ist er dagegen, ein zweites Referendum durchzuführen. Für ihn ist das undemokratisch, und er hat Angst, dass es die Rechten im Land stärken könnte. Die Labour-Abgeordnete Carolyn Flint warnt dann auch auf einer Veranstaltung am Rande des Parteitags: Wenn Labour sich für ein zweites Referendum einsetzen würde, sähe es so aus, als würde man den Wählern nicht trauen.
Lieber nicht konkret
Bisher hat die Labour-Spitze konkrete Aussagen zum Brexit lieber unterlassen, weil man mit Blick auf mögliche Neuwahlen sowohl bei den EU-Befürwortern als auch bei den EU-Gegnern Stimmen hinzugewinnen will. Man wolle in der Zollunion verbleiben, der Brexit solle den Arbeitnehmern nützen und der Wirtschaft nicht schaden - die Ziele sind vage, die Formulierungen schwammig.
Auch der Beschluss der Delegierten, wonach Labour ein zweites Referendum nicht ausschliesst, lässt bewusst viele Optionen offen: Es bindet Jeremy Corbyn und sein Führungsteam keinesfalls, sich für eine Umkehr beim Brexit einzusetzen. Die Aktivisten in den vielen neuen pro-europäischen Basisorganisationen, die innerhalb der Labour-Partei mobil machen, können sich auf keinen Fall entspannt zurücklehnen. Aber die Abstimmung ist doch ein kleiner Sieg für Labours Europa-Freunde. Für den Abgeordneten Ben Bradshaw böte es die Möglichkeit, das vom Brexit gespaltene Land zu versöhnen: "Die Wähler sollen zu Ende bringen, was sie angefangen haben."