Lahme Ente im Kanzleramt?
8. Dezember 2017"Jetzt ist allen so richtig deutlich geworden, dass Merkel am Ende ihrer politischen Laufbahn steht", sagt Christian Böllhoff. Der Geschäftsführer des Prognos-Beratungsunternehmens sieht in der nun dauernden offenen Berliner Regierungslage ein Signal. Und er rechnet damit, wie er im Gespräch mit der Deutschen Welle sagt, dass bald Nachfolge-Kämpfe beginnen werden. "Erst unauffällig, dann immer auffälliger."
Gut zehn Wochen sind seit der Bundestagswahl vergangen. Und noch vor Weihnachten wird das politische Berlin einen Rekord in der 68-jährigen Geschichte der Bundesrepublik verzeichnen. Niemals seit 1949 dauerte der Zeitraum bis zu einer Regierungsbildung länger als 86 Tage. Diese Zeit hat es 2013 unter Angela Merkel gebraucht und das stellte damals schon einen einsamen Rekord dar. Nun dürften es mindestens deutlich über 100 Tage werden.
Die offizielle Parole lautet "business as usual". Unionsvertreter warten auf eine Entscheidung der SPD über eine große Koalition. Bis auf weiteres ist die Bundesregierung geschäftsführend aktiv. Doch die politische und mediale Aufmerksamkeit für die Ausführungen von Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) zu den transatlantischen Beziehungen und zur Europapolitik zeigte, dass jede größere Aktion auch als Signal des selbstbewussten Auftretens neben der Kanzlerin interpretiert wird.
Außenpolitische Fragen
Die Europapolitik mit dem Drängen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der Umgang mit Nordkorea, das weitere Gespräch mit der Türkei… Das sind nur Beispiele für anstehende drängende, große außenpolitische Fragen. Immerhin wurde in der vergangenen Woche bekannt, dass Kanzlerin Merkel nach längerer Zeit mal wieder mit dem türkischen Präsidenten Erdogan telefoniert hat.
Prognos, in der Schweiz gegründet, hat als langjähriges Wirtschaftsforschungs- und Beratungsunternehmen seinen Hauptmarkt in Deutschland. Chef Böllhoff sieht angesichts der Hängepartie tendenziell vorerst keine großen Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft. Dann nennt er doch ein großes Sachthema. Im Bereich der digitalen Entwicklung stünden große, langfristig wirkende Entscheidungen an. Wenn es nun drei, vier, fünf Monate keine neue Regierung gebe, wirke sich das schon negativ aus und sorge für ein weiteres verlorenes Jahr.
Der Fels in der Brandung
Selbst wenn die Regierungsbildung sechs Monate dauern sollte, habe das "im wesentlichen keinen Einfluss auf die Unternehmen". Das zeige auch der Blick auf Länder wie die Niederlande oder Spanien, die zuletzt noch länger ohne stabile Regierung blieben. Anders sei es bei der Frage, wie sich das auf die Wahrnehmung des Standorts Deutschland von außen auswirke. Da werde es "nicht positiv in der Wahrnehmung" sein. "Deutschland war für alle insbesondere wirtschaftlich der Orientierungspunkt und auch der Fels in der Brandung. Wenn das Vertrauen ein Stück erschüttert wird, ist das schlecht." Am Ende sei es aber eine Frage der Zeit. Falls sich im Anschluss relativ schnell eine funktionierende Regierung bilde, würden "keine großen Schleifspuren" zurückbleiben.
Viele Fragen im Ausland
Dass etliche Unternehmer und Politiker ihren Blick auf die Zukunft von Angela Merkel richten, bestätigen zwei Unions-Außenpolitiker, die in den vergangenen Wochen unter anderem in den USA unterwegs waren. Jürgen Hardt (CDU), der außenpolitische Sprecher der Unions-Fraktion im Bundestag, sagt, viele Länder hätten doch "Erfahrungen mit komplizierter Regierungsbildung". Dort sei man "eher erstaunt, dass man in Deutschland so eine Welle darum macht". Das allermeiste Interesse gelte nach seinem Eindruck der Frage, ob Angela Merkel Bundeskanzlerin bleibe. Wenn dies nicht so wäre, würde sich beim Blick von ausländischen Politikern auf Deutschland "große Unsicherheit" zeigen. Unabhängig von politischen Lagern gehe man davon aus, dass Merkel Koalitionspartner finde "oder die Kraft hat, ohne Mehrheit durchzuhalten". Hardt sagt auch, er erlebe bei Politikern verschiedener Lager im Ausland Unverständnis darüber, dass Parteien wie die FDP und die SPD "offensichtlich nicht regieren wollen".
Ähnliches Feedback mit Blick auf Liberale und Sozialdemokraten schildert sein Parteikollege Andreas Nick, gleichfalls als Experte für Außenpolitik oft international unterwegs. Er sagt, natürlich werde man international wegen der aktuellen innenpolitischen Lage vielfach angesprochen. "Es gibt eine gewisse Verunsicherung, weil man derartiges von Deutschland schlichtweg nicht gewohnt ist." Dazu trage aber auch die "teils sehr vordergründig reißerische Berichterstattung der internationalen Presse" mit Titeln wie "the end of Merkel" bei, meint Nick im Gespräch mit der Deutschen Welle. Dem stehe die Vergewisserung gegenüber, "dass die Stabilität Deutschlands nicht in Frage gestellt ist" und wegen des breiten Grundkonsenses der demokratischen Parteien die "außenpolitische Verlässlichkeit" Deutschlands gewährleistet sei.
"Irgendwann die lame duck"
Und doch: Prognos-Chef Böllhoff, der für eine Minderheitsregierung plädiert und sie einer erneuten großen Koalition vorziehen würde, sieht bereits Schatten auf dem politischen Gewicht Merkels. Bislang habe Merkel mit ihrer langjährigen Erfahrung für Verhandlungsstärke gestanden. Dieses Gewicht lasse jetzt nach, "ein Stück schneller, als das ohnehin der Fall gewesen wäre". Alle wüssten, dass die Kanzlerin in ihrer letzten Legislaturperiode stehe, "da wird man immer irgendwann die lame duck". Die lahme Ente - das Bild steht für deutlich geschwächte politische Entscheider. Man werde, meint Böllhoff, "erleben, dass der eine oder andere das ein Stück weit ausprobiert." Das könne ein russischer Präsident oder ein US-Präsident, das könne aber auch eine europäische Runde sein. Dieses nun geschwächte politische Gewicht Merkels "werde sich nicht mehr so zurückbilden".
Böllhoffs Bewertung teilen andere Politik-Beobachter. So wie Bert Van Roosebeke, Jurist und Volkswirt beim Centrum für europäische Politik in Freiburg, dass sich als Think-Tank mit Strategien europäischer Politik befasst. Die Freiheit von Merkel, Inhalte durchzusetzen, sei derzeit "so klein wie nie", meint er im DW-Gespräch. Und auch er hat eine Meinung zu der Frage, ob Merkel schon eine "lame duck" sei. "Ja", so die eindeutige Antwort. "Wenn man auf das Wahlergebnis schaut, kann man nichts anderes sagen, als dass sie Einfluss verloren hat." Und es liege in der Natur der Sache, dass in der letzten Legislaturperiode einer Regierungschefin "immer weniger Leute Rücksicht nehmen".
Und eine Sternstunde?
Aber Van Roosebeke, der gebürtiger Belgier ist und aus seiner Heimat Erfahrungen mit vielmonatigen Regierungsbildungen hat, sieht die Schwäche der Regierung als Chance für den Bundestag. "Man tut jetzt so, als ob die Bundesregierung in Brüssel gar nichts entscheiden kann. Aber das ist eine Geringschätzung des Parlaments." Der derzeitige Zustand - ohne Koalitionszwang - sei "die Gelegenheit für den Bundestag", die Bundesregierung "in die Mangel zu nehmen" und ihr zu sagen, welche Linie sie auf EU-Ebene vertreten solle. Schließlich könnten alle Lager im sogenannten Hauptausschuss, dem als Provisorium bislang einzig eingerichteten Ausschuss des Parlaments, Beschlüsse fassen. "Das wäre jetzt die Gelegenheit für eine Sternstunde des Bundestags."