EU lässt Italien mit Flüchtlingen allein
13. Mai 2021An die Bilder von Menschen, die von seeuntüchtigen Booten gerettet und dann, wie in diesen Tagen, auf der italienischen Insel Lampedusa notdürftig versorgt werden, haben sich die Europäer mehr oder weniger gewöhnt. Allein in diesem Jahr sind nach Schätzungen der Hilfsorganisationen bereits 500 Migranten im Mittelmeer ertrunken. Nach Angaben des Innenministeriums in Rom haben seit Jahresbeginn etwa 13.000 Menschen die italienische Küsten erreicht. Für Catherine Woollard, die in Brüssel über 100 Nichtregierungsorganisationen im "Europäischen Rat für Flüchtlinge und Exil" (ECRE) vertritt, ist das Ansteigen der Migrantenzahlen im Frühjahr traurige Routine. "Dies ist eine sehr vorhersehbare Situation, die sich nun seit mehr oder weniger 20 Jahren wiederholt. Das ist eine andauernde humanitäre Krise, die mit der Seenotrettung und dem Anlanden der Menschen im Mittelmeer zusammenhängt", sagt Catherine Woollard der DW.
Steigende Zahlen, mangelnde Solidarität
Während der COVID-Pandemie waren die Zahlen der Ankommenden etwas gesunken. Jetzt, da sich die Corona-Lage in Europa wieder verbessert, werden auch die Zahlen steigen, vermutet Roberta Metsola, christdemokratische Europaabgeordnete aus Malta. "Die Herausforderungen gab es schon vor der Pandemie, aber jetzt werden sie größer durch zunehmende Armut. Die Zahlen werden also steigen. Die EU muss sich erneut fragen, warum handeln wir nicht schnell genug?", meint die Abgeordnete, die dem zuständigen Innenausschuss des EU-Parlaments angehört. Die Antwort auf die Frage, was die EU tut, ist aus Sicht vieler Hilfsorganisationen, des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen und auch der EU-Kommission relativ einfach: zu wenig, zu langsam.
Seit Jahren können sich die Mitgliedsstaaten nicht auf eine Verteilung ankommender Flüchtlinge oder Asylbewerber einigen. Die Appelle der EU-Kommissarin für Migration, Ylva Johansson, an die Mitgliedsstaaten, solidarisch zu handeln, verpuffen. Die südlichen Staaten , wo die Menschen ankommen, klagen, die meisten nördlichen Staaten handeln nur zögerlich oder verweigern sich ganz, wie Ungarn oder Polen. Die sogenannten Frontstaaten wie Italien, Malta, Griechenland und Spanien fragen zurecht, warum sie alleine gelassen werden, sagt die Europaabgeordnete Roberta Metsola: "Warum gibt es in allen möglichen Politikbereichen die Möglichkeit, Solidarität zu üben, nur wenn es um Menschen, um Migranten geht, dann plötzlich drücken sich die weiter entfernt liegenden Staaten um ihre Mitverantwortung herum."
"Die Zahlen sind nicht hoch"
Die Vereinbarung einiger EU-Staaten aus dem Jahr 2019, darunter Deutschland, wenigstens im akuten Notfall, wie jetzt auf Lampedusa, ankommende Migranten auf freiwilliger Basis zu verteilen, funktioniert nicht. Italien hat diese EU-Staaten um Hilfe gebeten, es passiert aber nichts. Berlin und Paris schweigen vielleicht auch deshalb zu den Anfragen aus Rom, weil die Auffassung herrscht, dass die absoluten Zahlen der Ankünfte eigentlich noch gut von Italien oder Griechenland alleine bewältigt werden können. Auf die ganze EU gesehen, trifft das mit Sicherheit zu, sagen sowohl das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen als auch der Europäische Flüchtlingsrat. "Auch wenn die Bilder dieser Ankünfte dramatisch sind. Die Zahlen sind wirklich nicht hoch und mehr als einfach für die EU zu handhaben", meint Catherine Woollard, die Generalsekretärin des Flüchtlingsrates in Brüssel.
Die EU-Kommissarin Ylva Johansson hat ein Reformpaket vorgeschlagen, dass keinen verpflichtenden Verteilungsschlüssel mehr vorsieht. Trotzdem weigern sich die meisten Mitgliedsstaaten der EU auch nur über das Thema zu reden. "Das ist das giftigste Thema in ganz Brüssel. Politisch und emotional aufgeladen. Das fasst keiner freiwillig an. Eine Reform wird es überhaupt erst 2023 geben", sagt dazu ein erfahrener EU-Diplomat, der nicht genannt werden will. Das Europäische Parlament und die Hilfsorganisationen machen zwar Druck, damit die Regierungen der Mitgliedsstaaten sich aufraffen, bislang aber ohne Erfolg. "Auf lange Sicht muss es eine Reform der Regeln über Verantwortung, Lastenteilung und Solidarität geben", ist sich Catherine Woollard vom Europäischen Flüchtlingsrat sicher. "Das Land, in dem die Menschen ankommen, darf nicht länger alleine verantwortlich sein für jeden, der kommt, inklusive der Bootsflüchtlinge."
Stärkere Zusammenarbeit mit Libyen?
Die italienische Regierung will das Thema beim nächsten Gipfeltreffen der EU am 25. Mai auf die Tagesordnung setzen. Premierminister Mario Draghi schwebt nach Medienberichten ein neuer Pakt mit dem nordafrikanischen Transitland Libyen vor. Die Küstenwache des dysfunktionalen Staates soll gegen Geld Migranten zurückhalten.
Für Catherine Woollard vom Flüchtlingsrat wäre das die falsche Antwort, da Libyen ein Unrechtsstaat sei, in dem Migranten gefoltert und versklavt würden. "Dies würde Rechtsbruch und Komplizenschaft mit den schlimmsten Arten von Menschenrechtsverletzungen bedeuten", kritisiert Catherine Woollard Italiens Vorschlag. Mit Libyen und seiner schwer zu kontrollierenden Küstenwache arbeitet die EU-Grenzschutzagentur Frontex nach Medienberichten ohnehin schon enger zusammen als öffentlich bekannt gemacht wurde. Frontex soll sogar an illegalen "pushbacks", also dem Rückführen von Migranten durch die libyschen Einheiten, beteiligt gewesen sein.
Auch die christdemokratische Migrationsexpertin Roberta Metsola aus dem Europaparlament lehnt eine Zusammenarbeit mit Staaten wie Libyen ab. "Wir haben weiterhin unzuverlässige Staaten in unserer Nachbarschaft. Wir können uns nicht auf einseitige Aktionen mit Staaten einlassen, die die Genfer Konvention nicht unterschrieben haben." Roberta Metsola bezieht sich auf die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz von Flüchtlingen. Andererseits hat sie aber auch Verständnis, dass Italien ungeduldig wird. "Die südlichen EU-Staaten sagen irgendwann, wenn es keine Lösung gibt, dann müssen wir eben unseren eigenen Weg gehen."
Politisches Risiko
In Italien fordert die neofaschistische Opposition "Fratelli d'Italia" eine Seeblockade Libyens. Matteo Salvini, rechtspopulistischer Anführer der Lega, die Teil der Regierung in Rom ist, gibt sich etwas gemäßigter. Er fordert Ministerpräsident Mario Draghi aber zum Handeln auf. Salvini steht demnächst wegen der Zurückweisung von Flüchtlingsbooten in seiner Zeit als Innenminister in Italien vor Gericht. Die Migrationspolitik wird sicher bei den bis spätestens 2023 anstehenden Parlamentswahlen eine Rolle spielen. "Im Moment liegen extrem rechten Parteien bei den Meinungsumfragen in Führung. Wenn sich der Eindruck verfestigt, Europa würde Italien nicht helfen, dann besteht das Risiko, dass diese Parteien die Macht übernehmen", befürchtet Catherine Woollard vom Europäischen Flüchtlingsrat. Die EU hätte also auch einen guten politischen Grund, sich endlich um die Migrationsfrage zu kümmern.