Lateinamerika: Aufstand gegen die Eliten
26. November 2019Im einst als südamerikanisches Musterland bekannten Chile war es die relativ unbedeutend erscheinende Erhöhung von Metropreisen, die zu den größten Protesten seit der Rückkehr zur Demokratie geführt hatten. In Bolivien stehen sich nach einer vermutlich manipulierten Präsidentschaftswahl und dem Rücktritt und Exil von Ex-Präsident Evo Morales zwei Blöcke unversöhnlich gegenüber. In Ecuador musste Präsident Lenín Moreno Anfang Oktober nach schweren Protesten die Streichung von Subventionen für Treibstoff zurücknehmen. Und in Kolumbien machten die Demonstranten am vergangen Freitag (22.11.2019) ihrem Unmut über wirtschaftliche Ungleichheit, Gewalt gegen Indigene und Aktivisten sowie Korruption Luft.
Auf der Suche nach den Ursachen oder vielleicht sogar einem gemeinsamen Nenner rät Ingrid Spiller, Referatsleiterin Lateinamerika bei der Heinrich-Böll-Stiftung, zur Vorsicht: "Man darf nicht in die Falle geraten, dies alles über einen Kamm zu scheren. Letztendlich sind die Ursachen auch lokal bedingt, obwohl es durchaus Gemeinsamkeiten gibt: Die Menschen sind mit ihren Eliten, sowohl den ökonomischen wie auch den politischen, sehr unzufrieden", so Spiller gegenüber der DW. Die Eliten in diesen Ländern seien "völlig abgehoben" und hätten "kein Gefühl mehr dafür, was die Leute eigentlich umtreibt".
Auch Philipp Kauppert, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien, sieht eine "starke Unzufriedenheit der Bevölkerungen mit ihren politischen Eliten und das mangelnde Vertrauen gegenüber den Parteien".
Der lateinamerikanische Kontinent weist im internationalen Vergleich ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit auf. Doch das ist nicht die alleinige Ursache der Proteste. In Lateinamerika offenbart sich derzeit ein tiefes Misstrauen gegenüber den politischen Eliten, egal ob sie politisch links oder rechts stehen.
Die Stunde der politischen Außenseiter
Normalerweise ist eine Demokratie in der Lage, unzufriedene Wähler im Sammelbecken der Oppositionsparteien innerhalb des politischen Systems zu integrieren. Warum scheint dies in Lateinamerika nicht zu funktionieren? "Man hat in den meisten Ländern der Region in der Vergangenheit den Regierungswechsel gewählt. Das heißt, demokratische Kanäle wurden für Protestwahlen genutzt, so etwa beim Sieg von Außenseitern wie zum Beispiel Bolsonaro in Brasilien", so Philipp Kauppert.
Auch in Bolivien beobachte er den Aufstieg von Außenseitern, die einen völlig neuen Weg versprechen. Chi Hyun Chung, ein rechtsgerichteter evangelikaler Politiker südkoreanischer Abstammung galt bei der Präsidentschaftswahl am 20. Oktober als chancenlos, konnte aber überraschend immerhin neun Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Auch der Lokalpolitiker Luis Fernando Camacho war vor wenigen Wochen den meisten Bolivianern noch völlig unbekannt. Mit lauten Tönen und erzkonservativen Parolen drängt er nun mit voller Kraft Richtung Präsidentenamt.
Parteienkritik
"Viele Leute glauben nicht mehr daran, dass sie durch Wahlen oder die Arbeit in politischen Parteien Veränderungen herbeiführen können. Die Unzufriedenheit ist so hoch, dass sie sich auf der Straße entlädt." Diese Entwicklung habe in Lateinamerika eine Debatte über eine grundsätzliche Krise der Demokratie neu entfacht. "Ich glaube schon, dass es noch möglich ist, diese Proteste und diese Krisen in der Region über demokratische Mechanismen zu bewältigen. Ich würde eher von einer Parteienkrise sprechen, da sich viele Menschen nicht mehr von ihren Parteien und der politischen Elite repräsentiert fühlen", so Kauppert.
Ingrid Spiller stellt die demokratische Kultur in vielen lateinamerikanischen Ländern infrage: "Die Menschen durften zwar zur Wahl gehen, doch danach hat der Staat eine Politik verfolgt, die nicht dem Interessenausgleich aller Bevölkerungsgruppen und sozialen Schichten gedient hat." Letztendlich hätten sich andere mächtige Einflussgruppen durchgesetzt, die dann die Politik des Staates definiert hätten. In Lateinamerika gäbe es zudem auch weniger den Typus der Programmpartei wie etwa in Europa, so Spiller. "Die lateinamerikanischen Parteien sind eher Interessenzusammenschlüsse und bei der Bevölkerung größtenteils diskreditiert."
Bleibt die Frage, warum sich gerade jetzt dieser geballte Unmut Bahn bricht, der überwiegend von einer jungen Generation getragen wird, die keine der alten lateinamerikanischen Diktaturen miterlebt hat. "In vielen lateinamerikanischen Ländern ist in den Jahren nach der Demokratisierung in den 80er und 90er Jahren eine neue Mittelschicht entstanden", analysiert Philipp Kauppert, "und mit ihr auch die Hoffnung auf eine sozial gerechtere und demokratischere Zukunft. Diese Mittelschicht ist auch durch den Fall der Rohstoffpreise und andere Faktoren an ihre ökonomischen Grenzen gestoßen." Der Boom der hohen Rohstoffpreise, der die Wirtschaft vieler Länder der Region und damit auch diese junge Mittelschicht gestärkt hatte, sei wieder abgeebbt, ohne diesen Menschen den versprochenen stabilen Wohlstand beschert zu haben.
Globaler Trend
Nach Ecuador, Chile und Bolivien ist der lateinamerikanische Protestfunke zuletzt auch auf Kolumbien übergesprungen. Am vergangenen Freitag (22.11.2019) gab es im südamerikanischen Land die größten Massendemonstrationen der jüngeren Geschichte.
"Man kann da über die Region hinausgehen. Von Hongkong, Libanon bis nach Lateinamerika scheint es in der Welt gerade ein größeres Mobilisierungspotenzial zu geben. Menschen, die sich vorher nicht getraut haben oder meinten, es würde sowieso nichts bringen, gehen jetzt auf die Straße, um ihre Unzufriedenheit zu demonstrieren und sie doch noch politisch zu kanalisieren." Kauppert vermutet, dass auch die sozialen Medien dazu beitragen, ein globales Bewusstsein für Probleme wie Ungleichheit und die Selbstgerechtigkeit politischer Eliten zu schaffen. "Wenn dem so ist, müsste man sogar mit einer Ausweitung der Protestwelle auf weitere Länder rechnen."