Deutschland verliert den Anschluss
22. September 2022Immerhin war es eine wichtige Geste der deutschen Regierung: Bundeskanzler Olaf Scholz hatte vor wenigen Wochen Argentiniens Präsidenten Alberto Fernandez als Gast zum G7-Gipfel nach Deutschland eingeladen. Doch nun kommt für die Europäer und den sogenannten Westen eine schlechte Nachricht: Argentinien zieht es in die BRICS-Gruppe. Die besteht bislang aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
Trotz aller wirtschaftlichen Probleme, die Argentinien derzeit mit Dauer-Inflation und hoher Armutsrate zu verzeichnen hat, wäre das für die BRICS-Gruppe mehr als nur ein Image-Gewinn. Denn Argentinien verfügt unter anderem über hohe Lithium-Vorkommen, den Rohstoff, der unter anderem für die Produktion von Akkus für E-Autos notwendig ist. Kurzum: Der Zukunftsmarkt Argentinien orientiert sich um.
Warten auf die Wahlen in Brasilien
"Ich glaube, die Bundesregierung wartet und hofft auf eine Abwahl des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Ich hoffe, dass dann die Aktivitäten, stärker um Südamerika zu werben, rasch in Gang kommen", sagt der in Argentinien ansässige Wirtschaftsexperte Carl Moses im Gespräch mit der DW. Tatsächlich sind derzeit die Aktivitäten rund um den EU-Mercosur-Freihandelsvertrag auf Eis gelegt. Der lag eigentlich unterschriftsreif vor, wurde dann aber von den Europäern gestoppt.
Grund dafür ist die umstrittene Amazonas-Abholzungspolitik des amtierenden rechtspopulistischen Präsidenten Bolsonaro. Sein in den Umfragen führender linksgerichteter Herausforderer Lula da Silva, der Brasilien von 2003 bis 2011 schon einmal regierte, verspricht im Wahlkampf die Weichen für eine Null-Abholzungspolitik zu stellen. Sollte allerdings Bolsonaro die Wahlen gewinnen, stände Europa in puncto Freihandelsvertrag mit dem südamerikanischen Staatenbund plötzlich ziemlich blank da. Kritiker werfen den Europäern ohnehin vor, eine Chance verpasst zu haben. Mit dem Freihandels-Vertrag hätte Druck auf Bolsonaro ausgeübt werden können.
Noch kein Besuch der Außenministerin
Deutschlands Ampel-Regierung hat Lateinamerika bislang die kalte Schulter gezeigt. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) war seit ihrem Amtsantritt noch nicht in diesem Teil der Welt. Angesichts der sich verändernden Kräfteverhältnisse auf den globalen Märkten, dem deutschen Hunger nach Rohstoffen wie Lithium oder Gas, wäre aber eine angepasste Lateinamerika-Strategie dringend notwendig.
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu auf Anfrage der DW: "Im Jahr 2019 hat das Auswärtige Amt die Lateinamerika- und Karibik-Initiative (LAK-Initiative) ins Leben gerufen. Die Bundesregierung sieht die LAK-Initiative als Grundlage für ihr außenpolitisches Handeln in der Region." Die Strategie stammt also noch aus der Zeit vor den großen Krisen, also Corona und russischem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seitdem haben sich allerdings viele Gewissheiten verändert.
Ziel der LAK-Initiative sei die partnerschaftliche Kooperation, Wertegemeinschaft und den Austausch mit den Demokratien in Lateinamerika und der Karibik zu stärken und zu intensivieren: "Die Bundesregierung ist den Zielen des Koalitionsvertrages verpflichtet und beabsichtigt, ihr Engagement aufbauend auf der LAK-Initiative auszuweiten, um die Gesellschaften der Region in ihrem Kampf gegen Populismus, autoritäre Bewegungen und Diktaturen zu stärken."
Neue Lage, neue Kompromisse
Die neue Lage hat Ampel-Koalition bereits gezwungen, eigene Grundsätze zu übergehen. So wird der Import des fossilen Brennstoffs Kohle aus Kolumbien gesteigert, obwohl die Auswirkungen auf die dort lebenden indigenen Gemeinden zumindest umstritten sind. Das wäre vor dem Embargo gegen russische Kohle nur schwer vorstellbar gewesen.
Neben der politischen Ausrichtung fehlt eine begleitende Wirtschaftsstrategie. Deutschland unterstützt zum Beispiel den Friedensprozess in Kolumbien mit hohen Millionenzahlungen für die Zivilgesellschaft, eine Wahrheitskommission und ein Friedensinstitut, doch dieses Engagement wird nicht von gezielten volkswirtschaftlichen Initiativen begleitet. Die Folge: Während China im Zeitraum von 2016 bis 2021 sein Exportvolumen nach Kolumbien von 8,8 auf umgerechnet etwa 15 Milliarden Euro steigerte, stagniert Deutschlands Exportbilanz im gleichen Zeitraum: Von 1,4 stieg es nur unwesentlich auf 1,6 Milliarden Euro.