Leben mit der Bedrohung
15. Juni 2013"Was auch immer passieren soll, wird passieren", meint Alon Tuval, Rechercheur und langjähriger Journalist in Jerusalem. Der 47-jährige Jerusalemer hat schon viele Krisenzeiten in Israel miterlebt, und das Thema Iran und die nukleare Bedrohung beschäftigen ihn und seine Mitbürger seit langem. "Ich will mich einerseits nicht verrückt machen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Israel im Alleingang den Iran angreift. Aber Sorgen und Zweifel hat man irgendwie immer", sagt der Vater von zwei kleinen Kindern.
Jeder im Land erinnert sich an den Auftritt des israelischen Premierministers vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im vergangenen September. Während seiner Rede zog Benjamin Netanjahu eine Comic-ähnliche Zeichnung hervor, die eine Bombe zeigte und zeichnete darauf mit rotem Stift seine sogenannte rote Linie. Der Iran müsse auf jeden Fall daran gehindert werden, in die letzte Stufe der Urananreicherung einzusteigen, warnte Netanjahu die Weltgemeinschaft damals eindringlich. Dann wäre der Iran nur noch wenige Wochen oder Monate von der Atombombe entfernt. Bis zum nächsten Sommer könne es soweit sein. Die israelische Regierung drohte bereits mehrfach mit einem Präventivschlag gegen iranische Atomanlagen.
Nun ist der besagte Sommer da, und Medien und Experten spekulieren weiter, wann diese rote Linie erreicht ist. "Zwei Monate noch können die Israelis ruhig schlafen", beschrieb Amos Yadlin, israelischer Ex-Militärgeheimdienstchef, die Situation auf einer Sicherheitskonferenz in Tel Aviv. Das war im April. In Israel haben sich die meisten an solche Kommentare gewöhnt. In der Politik herrschen derzeit eher die innenpolitischen Themen vor. Das Thema Iran kommt in Umfragen weit hinter den sozialen Fragen. Eine Mehrheit der Israelis lehnt demnach einen militärischen Alleingang Israels, also ohne die Unterstützung der USA, ab.
Ständige Bedrohung – in Israel Alltagsgefühl
In der Ausgabestelle für Gasmasken im Keller eines großen Einkaufszentrums in Jerusalem ist bislang jedenfalls keine Panik ausgebrochen. "Ich will einfach alles auf dem neuesten Stand haben", sagt Yaki. Der ehemalige Soldat einer Eliteeinheit hat fünf Gasmaskensets für seine Familie abgeholt. Die gibt es hier umsonst - gegen Vorlage des Personalausweises. "Irgendwie hat man schon das Gefühl, dass sich im Sommer etwas zusammenbrauen könnte. Aber ob Iran oder Syrien – diese ständige Bedrohung ist etwas, an das wir in Israel gewöhnt sind. Dafür haben wir ja unsere starke Armee", sagt der 50-Jährige zuversichtlich. In der kleinen Ausgabestelle, die von der Post organisiert ist, herrsche immer Betrieb, aber es sei alles im normalen Rahmen, erzählt einer der Mitarbeiter. Die Leute möchten einfach vorbereitet sein, sagt man hier gelassen. Das meint auch Rinat, eine junge Mutter aus Jerusalem. "Ich mache mir im Moment mehr wegen Syrien Sorgen. Deshalb habe ich heute die Gasmasken abgeholt", sagt die junge Frau und nimmt ihre Pakete entgegen.
Konflikt in Syrien rückt näher
Der Konflikt im benachbarten Syrien bestimmt zurzeit die Schlagzeilen in Israel. "In den Medien und auch in der Regierung ist das drängendste Problem natürlich im Moment Syrien", sagt Meir Javedanfar, Iran-Experte am Interdisziplinären Forschungszentrum (IDC) in Herzliya. Andererseits sei es der israelischen Regierung, allen voran Premierminister Netanjahu, gelungen, das Problem des iranischen Nuklearprogramms weit oben auf der Agenda der internationalen Gemeinschaft zu halten. "Ich denke, dass nach dem Israel-Besuch von Präsident Obama mehr Vertrauen besteht, vor allem in der israelischen Regierung, dass Obama es ernst meint, wenn er sagt, dass er den Iran davon abhalten wird, nuklear zu werden." Auch die USA haben einen Militärangriff als letztes Mittel nicht ausgeschlossen, drängen aber darauf, alle diplomatischen Mittel auszuschöpfen. Erst vor kurzem hat der neue amerikanische Verteidigungsminister Chuck Hagel bei seinem Antrittsbesuch einen umfangreichen Rüstungsdeal mit Israel abgeschlossen. Die Lieferung von Transport- und Tankflugzeugen sowie Raketen werten Experten als klares Signal, um amerikanische Partnerländer im Falle eines Konfliktes zu stärken.
Zwischen Gelassenheit und Fatalismus
Auch Alon Tuval hat sich ein neues Set Gasmasken besorgt. "Immerhin sind sie umsonst. Das ist sicher auch ein Grund, warum viele hier herkommen", scherzt er. Dabei erinnert er sich auch an 1991, als während des Golfkriegs irakische Scud-Raketen auf Tel Aviv niedergingen. "Damals haben sie uns auch Gasmasken gegeben und gesagt, wir sollen nasse Tücher unter die Türen legen, damit kein Giftgas durchkommt. Heute weiß man, wie idiotisch das war", erzählt Tuval. "Klar würde ich versuchen, mich diesmal besser für einen Notfall vorzubereiten. Aber Iran, das wäre eine ganz andere Geschichte. Und ganz ehrlich: Wie soll man sich auf so etwas vorbereiten?"