Lee Miller: Vom begehrten Model zur Kriegsfotografin
11. Juni 2023Geboren 1907 in Poughkeepsie, etwa 100 Kilometer nördlich von New York City, interessiert sich Elizabeth "Lee" Miller schon früh für die Künste und für Europa. Mit 18 Jahren ging sie nach Paris, um an einer Theaterschule Beleuchtung, Kostüm und Design zu studieren. Ein Jahr später zog sie nach New York City, wo sie Theater, Zeichnen und Malen studierte.
Das "zufällige" Model
Kaum angekommen im Big Apple wurde sie zu einem der gefragtesten Models der Stadt. Es war ein Zufall, der sich ereignete, als Conde Nast, Herausgeber der Zeitschrift "Vogue", sie davor bewahrte, von einem Auto überfahren zu werden. Doch Miller hatte schnell genug vom Modeln und interessierte sich mehr dafür, selbst zu fotografieren.
Surrealismus mit Man Ray
1929 kehrte sie nach Paris zurück, wo sie Schülerin, Muse, Geliebte und Mitarbeiterin des Künstlers und Fotografen Man Ray wurde. Gemeinsam machten sie die Solarisation zu einem ihrer ästhetischen Markenzeichen. (Das Porträt von Miller auf dem Bild oben hat Ray mit dieser Technik angefertigt.) Doch Miller gründete ihr eigenes Fotostudio und etablierte sich als eigenständige Künstlerin.
Kunstschaffen in der Wüste
Nachdem sie Man Ray verlassen hatte, heiratete Miller 1934 ihren ersten Mann, den ägyptischen Geschäftsmann Aziz Eloui Bey, und zog mit ihm nach Kairo. Dort wandte sie ihr durch den Surrealismus geschultes Auge auf die Fotografie der ägyptischen Naturlandschaft an, was zu einigen ihrer bekanntesten Kunstwerke führte wie dem Foto "Portrait of Space" (s.o.).
Kriegsfotografie mit den Augen einer Surrealistin
1937 kehrte Miller erneut nach Paris zurück, wo sie ihren zweiten Ehemann, den britischen surrealistischen Maler Roland Penrose, kennenlernte. Das Paar ließ sich in London nieder, wo 1947 ihr gemeinsamer Sohn zur Welt kam.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, beschloss Miller, ihre fotografischen Fähigkeiten als Kriegsberichterstatterin für die Zeitschrift "Vogue" zu nutzen. Sie reiste durch England und Europa - auch an die Front. Sie war die einzige Fotografin, die die Erlaubnis erhielt, unabhängig in die Kriegsgebiete zu reisen. In den Fotos, die sie in dieser Zeit machte, verschmolzen Fotojournalismus und Kunst, denn ihre surrealistische Sensibilität prägte die Gestaltung ihrer Aufnahmen.
Die Frau in Hitlers Badewanne
Lee Miller hatte einen Blick für die kleinen Momente, die anderen vielleicht entgehen. Eines ihrer berühmtesten Fotos zeigt sie selbst beim Baden in Hitlers Badewanne am 30. April 1945 in München - am selben Tag, an dem der Nazi-Diktator in Berlin Selbstmord beging. Die Alliierten hatten sie dort einquartiert, nachdem sie das befreite Konzentrationslager Dachau, nah der bayrischen Hauptstadt, fotografiert hatte.
Mehr noch als von dem Wunsch nach Ästhetik war Miller von Empathie motiviert. Ihre Fotos von Tod, Zerstörung und menschlichem Leid, dessen Zeuge sie wurde, haben auch mehr als sieben Jahrzehnte später nichts von ihrer schockierenden Kraft verloren.
Freundschaft mit Picasso
Lee Miller war mit mehreren Künstlerkollegen eng befreundet, darunter auch mit Pablo Picasso. In den vier Jahrzehnten, in denen sie sich kannten, machte sie fast tausend Fotos von dem spanischen Jahrhundertmaler. Er malte sie sechs Mal. Millers Sohn Antony Penrose hat ein Kinderbuch über seine Kindheitserlebnisse mit dem Künstler geschrieben. Der Titel: "The Boy Who Bit Picasso". Dieses Foto von Miller und Picasso wurde in Picassos Atelier in Paris kurz nach der Befreiung der Stadt durch die Alliierten aufgenommen.
Abschied vom Fotojournalismus
Miller blieb von dem, was sie während des Krieges sah und dokumentierte, tief betroffen und litt nach ihrer Rückkehr nach England unter Depressionen. Schließlich gab sie die Fotografie auf und widmete ihre Kreativität dem Kochen von Gourmetgerichten für Freunde und Familie.
Sie starb 1977 im Alter von 70 Jahren an Krebs. Lee Millers bahnbrechender Einfluss und ihr Vermächtnis, sowohl als Künstlerin als auch als Kriegsreporterin, haben ihr einen wichtigen Platz in der Geschichte der Fotografie des 20. Jahrhunderts eingebracht. Das Bucerius Kunst Forum in Hamburg widmet Lee Miller in diesem Jahr eine Retrospektive (10.6.- 24.9.2023).
Adaption aus dem Englischen: Petra Lambeck