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Leise Töne der Zukunft in Srebrenica

Nils Neubert11. Juli 2015

Zwanzig Jahre nach dem Genozid in Srebrenica bringt ein Chor bosniakische und serbische Kinder zusammen. Doch die Wunden der Vergangenheit sind noch frisch. Aus Bosnien-Herzegowina: Nils Neubert.

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Fadila Efendic aus Srebrenica, die Sohn und Ehemann beim Massaker von 1995 verloren hat (Foto: Nils Neubert)
Bild: Nils Neubert

Jeden Tag sitzt Fadila Efendić ihrem Sohn Fejzo und ihrem Ehemann Hamed gegenüber. Sie fühlt sich ihnen nahe - auch wenn ihr nur die beiden Gräber geblieben sind. Vater und Sohn liegen auf dem Erinnerungsfeld für die Opfer des Völkermords von Srebrenica. Fejzo war 20 und sein Vater 46, als sie von serbischen Kugeln in den Wäldern rund um Srebrenica getötet wurden: "Jeden Tag komme ich hierher und sitze und schaue auf die Gräber." Sie spricht leise, ihr Gesicht verrät keine Trauer mehr, ein sanftes Lächeln fesselt den Zuhörer. "Komm, mein Sohn", wirft sie einem zu, "kauf ein paar Blumen, oder hier eine DVD - da ist die ganze Wahrheit drin."

Der Schutz, der keiner war

Fadila verkauft bittere Souvenirs des Völkermords. T-Shirts mit der Aufschrift "Srebrenica/Potočari 1995 - Never forget", DVDs mit Aufnahmen der verängstigten Bevölkerung, die hier, genau an dem Ort, an dem Fadila heute ihre Blumen verkauft, Schutz gesucht hatte. Potočari, hier begann das eigentliche Grauen nach dem Fall Srebrenicas am 11. Juli 1995. Hier, nur sechs Kilometer von Srebrenica entfernt, war das niederländische Blauhelmkontingent in leer stehenden Hallen einer Fabrik für Autobatterien stationiert. Es sollte die bosniakische Bevölkerung vor der anrückenden bosnisch-serbischen Armee schützen. Der Plan schlug fehl. Stattdessen wurden die Menschen kampflos ausgeliefert. Den niederländischen Blauhelmen zugesagte militärische Hilfe wurde durch die UN verwehrt. Die Niederländer hatten danach schlichtweg Angst ums eigene Leben.

Das Grabfeld von Srebrenica (Foto: Nils Neubert)
Fadila Efendić besucht täglich die Gräber von Sohn und EhemannBild: Nils Neubert

Vor ihren Augen begannen die Erschießungen in den Fabrikhallen, die heute immer noch unberührt direkt gegenüber dem Grabesfeld stehen. Hier begann der Abtransport der Frauen und der kleinsten Kinder in Bussen. Die Jugendlichen und Männer wurden von ihnen getrennt. "Ti lijevo" - "Du links", so ist es auf einer der DVDs zu sehen, die Fadila Efendić in ihrem kleinen Blumen- und Souvenirladen gegenüber des Erinnerungsfeldes in Potočari verkauft. So herrschte ein serbischer Soldat einen Mann an, der zusammen mit seiner Familie in einen Bus einsteigen wollte. Zeit für Widerstand gab es nicht, alle gehorchten, auch weil ihnen zuvor der bosnisch-serbische Militärführer Ratko Mladic versprochen hatte, dass ihnen nichts passieren würde. Der kleine Bruchteil einer Sekunde, in dem der Mann zum letzten Mal seiner Frau einen hilflosen Blick zuwarf, war der letzte Kontakt. Sein Grab ist eines von tausenden in Potočari. Wenn sich internationale und einheimische Politiker hier versammeln, herrscht Hochbetrieb. An einem normalen Wochentag ist Fadila Efendić wieder alleine mit ihrem Sohn und ihrem Mann.

Zusammen oder nebeneinander leben?

Der Friedhof von Potočari mit seinen unzähligen Grabmälern aus Marmor prägt sich tief ein in das Gedächtnis. Es stellt sich die Frage, wie man angesichts der Dimension des Verbrechens noch von einem Zusammenleben in Srebrenica sprechen kann. Denn auch heute wieder leben bosniakische Familien, die zurückgekehrt sind, Tür an Tür mit ihren serbischen Nachbarn, so wie sie es zuvor jahrhundertelang auch getan haben.

Mićo, ein serbischer Taxifahrer, sagt: "Ach, wir kleinen Leute haben doch kein Problem miteinander, wir haben doch alle dieselben Sorgen. Es sind die Politiker, die das alles hier verbockt haben." Solche Sätze hört man besonders unter den Serben in Srebrenica oft. Leider auch Verschwörungstheorien aller Art: die Amerikaner und die bosniakische Führung hätten den Völkermord angeblich nur inszeniert, es seien nur einige hundert umgekommen, die meisten Gräber seien leer.

Bosniakisch-serbische Freundschaften im Kinderchor

Doch Ismar Porić hat einen anderen Weg gefunden, die Vergangenheit zu bewältigen. Er ist Musiker, Dirigent und Chorleiter. In Srebrenica leitet er die Kinder von "Superar". Bosniakische und serbische Kinder aus Srebrenica und den umliegenden Dörfern singen in diesem Chor gemeinsam. Die 14-jährige Dajana Lazarević kommt jedes Mal aus dem Örtchen Skelani, 40 Kilometer bergige Wege muss sie dafür zurücklegen. Doch ihre beste Freundin heißt heute Semra und kommt aus Potočari. Ohne den Chor hätte sich diese Freundschaft nicht entwickelt. "Ich kann es manchmal selber nicht mehr hören", sagt Ismar Porić, "weil es einfach so banal ist und man nicht darüber reden sollte, aber das Dajana ein serbisches Mädchen ist und Semra ein bosniakisches und dass sie trotzdem hier beste Freundinnen geworden sind - so etwas ist leider noch nicht selbstverständlich."

Kinderchor 'Superar' in Srebrenica (Foto: Nils Neubert)
Der Kinderchor "Superar" hatte schon einen Auftritt vor Papst FranziskusBild: Nils Neubert

Der Chor befindet sich im "Haus der guten Töne", finanziert von der österreichischen Organisation "Bauern helfen Bauern". Der bisher größte Erfolg von "Superar" war ein Auftritt vor Papst Franziskus bei seinem jüngsten Besuch in Sarajevo. Der Stolz darüber ist den jungen Sängerinnen und Sängern immer noch nicht vom Gesicht gewichen. Aber sie schwelgen nicht in Erinnerungen, schon steht der nächste große Auftritt an: in Wien. Zum Repertoire gehört die "Ode an die Freude" von Schiller nach der Melodie von Beethoven. Und wenn dann Ismar Porić mit seinen Fingern schnippend den Takt angibt und die bosniakischen und serbischen Kindern gemeinsam die Verse: "Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein" und "Alle Menschen werden Brüder" singen, liegt ein kleines Fünkchen Hoffnung in der Luft. Vielleicht werden sie in der Lage sein, eines Tages ein neues, friedliches Srebrenica zu gestalten.