"Die größte Reform ist der Papst selbst"
12. März 2014Deutsche Welle: Was hat sich ein Jahr nach der Wahl von Papst Franziskus in der katholischen Kirche in Lateinamerika verändert?
Leonardo Boff: Das Klima hat sich verändert, und diese Änderung ist nicht zu unterschätzen. Vorher war die Stimmung finster und ernst, die Institution Kirche wurde als Albtraum wahrgenommen. Nun herrscht Erleichterung und Fröhlichkeit. Pfarrer und Bischöfe sind offener, toleranter und weniger doktrinär. Zur Kardinalsweihe nach Rom ist Rios Erzbischof Dom Orani Tempesta in der Economy Class geflogen und damit dem Beispiel des Papstes gefolgt.
Angesichts des gravierenden Priestermangels in Lateinamerika will der Papst die Position der Laien stärken. Wie könnte das in der Praxis aussehen?
Der Papst betrachtet die Kirche als Volk Gottes. Diesem Volk gehören alle an, insbesondere die Laien. Der Papst will, dass Laien, und ganz besonders Frauen an den Entscheidungen der Kirche teilhaben und nicht nur am Gemeindeleben. In welcher Form wissen wir noch nicht. Wir wissen nur, dass er immer wieder für Überraschungen gut ist, dass sich neue Dinge ergeben können...
Könnten dann auch Frauen in naher Zukunft die Eucharistie austeilen?
Ich glaube nicht, dass er Laien ermächtigen wird, die Eucharistie zu feiern, das erscheint mir ein zu gewagter Schritt. Aber in Basisgemeinden, wo kein Pfarrer vor Ort ist, wird das Abendmahl bereits jetzt von Laien in Szene gesetzt und das Brot geteilt. Ich als Theologe glaube, dass Christus auf diese Weise im Gemeindeleben präsent ist.
Welchen Beitrag könnte katholische Kirche in Lateinamerika zur Reform der Kurie in Rom leisten?
Der größte Reformbeitrag besteht in der Person von Papst Franziskus selbst. Er hat mit der Reform des Papsttums angefangen, nicht mit der Reform der Kurie. Er versteht sich als Bischof von Rom und Bischof der Barmherzigkeit. Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Papst ganz im kirchlichen und kulturellen Umfeld der lateinamerikanischen Kirche aufgewachsen ist, deren Antlitz sich stark von der Kirche der alten Christenheit in Europa unterscheidet. Mit dem Papst ziehen in den Vatikan neue Gewohnheiten ein, er versteht sich als einfacher Mann, der gerne mit anderen einfachen Menschen Zeit verbringt. Mit diesen Eigenschaften gibt er der strengen Institution Kirche ihr menschliches, barmherziges Antlitz zurück. Ich glaube, dass er der erste von vielen Päpsten sein wird, die aus dem Süden kommen, denn dort lebt die Mehrheit der Katholiken.
Wird der Vatikan dann lateinamerikanischer?
Ich glaube, dass es eine neue Art der Kirchenführung geben wird, nicht mehr monarchisch, sondern kollegial. Mit anderen Worten: Der Papst wird die Kirche nicht alleine leiten, sondern mit einem Kollegium aus Kardinälen, Bischöfen, Laien und Frauen. Als er gesagt hat, dass es in der Kirche neben ihm mehr Entscheidungsgremien bräuchte, hat er dies klar angedeutet. In Lateinamerika verfügen wir in diesem Bereich über gute Erfahrungen. Die katholische Kirche in Lateinamerika ist lebendig, sie stützt sich auf Basisgemeinden, sie verfügt über eine starke soziale Seelsorge, über prophetische Bischöfe und über Märtyrer, die während der Militärdiktatur verfolgt wurden.
Könnte es auch eine pastorale Lösung für wiederverheiratete Geschiedene geben, die bis jetzt noch von den Sakramenten ausgeschlossen sind?
Ganz sicher werden sich die wiederverheirateten Geschiedenen den Sakramenten annähern können, aus theologischen und seelsorgerischen Gründen. Die Kirche gehört allen, insbesondere den Ausgeschlossenen, so sieht es dieser Papst. Die Kirche ist ein offenes Haus, in das alle ohne Vorbedingungen eintreten können, so hat es Jesus im Johannesevangelium formuliert (6,37): „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus stoßen“.
Und wie steht es mit dem Zölibat?
Die Frage des Zölibats ist kein abgeschlossenes Thema, wie zu Zeiten von Papst Johannes Paul II., wo es verboten war, dieses Thema überhaupt anzusprechen. Meiner Ansicht nach wird wahrscheinlich folgendes Szenario eintreten: Als erstes werden die weltweit rund 100.000 verheirateten Priester eingeladen, ihr Amt wieder auszuüben. Der zweite Schritt wäre das freiwillige Zölibat, also die Abschaffung des Gebotes der Ehelosigkeit für Priester.
Feiert die aus Lateinamerika stammende Befreiungstheologie durch den neuen Papst eine Wiederauferstehung?
Sie war nie tot, schließlich hat auch die Unterdrückung der Armen nicht aufgehört. Trotz der Kontrolle von Kardinal Ratzinger (als Präfekt der Glaubenskongregation 1982 bis 2005 und als Papst 2005 bis 2013, Anmerk. der Red.), haben die Befreiungstheologen ihre Schriften weiter veröffentlicht. Ratzinger hat sich zum Feind der Intelligenz der Armen gemacht, diese Last wird er mit sich herumtragen müssen. Rom hat diese Theologie mit allen Mitteln bekämpft, es zeigte sich unberührt vom Drama der Armen. Mit Papst Franziskus steht die Befreiungstheologie wieder im Mittelpunkt des Pontifikats. Er sucht die Nähe zu den Armen, er umarmt sie und küsst sie, weil sie nach seinen Worten das Fleisch Christi sind. Das Treffen von Franziskus mit Gustavo Gutierrez, einem der Gründer der Befreiungstheologie, im September 2013 ist für mich in deutliches Zeichen dafür, dass Papst Franziskus die Befreiungstheologie wiederbeleben will.
Leonardo Boff (74) ist ein brasilianischer Befreiungstheologe und Autor, der sich für die Rechte der Armen und Benachteiligten einsetzt. Immer wieder kritisierte der Franziskaner die Führung der katholischen Kirche. Der Vatikan erteilte ihm deshalb 1992 ein Lehrverbot. Seitdem lässt Boff seine kirchlichen Funktionen ruhen und arbeitet als Professor für Theologie, Ethik und Philosophie an Universitäten in der ganzen Welt.