Leseboom in Taiwan
23. Juni 2015Womöglich ist Taiwan seit dem Ende der DDR das neue Leseland. Nirgendwo sonst jedenfalls gibt es gemessen an der Einwohnerzahl so viele Buchhandlungen. Und wohl kaum irgendwo sonst werden in den Läden so viele aus fremden Sprachen übertragene Bücher präsentiert. Ein Viertel der rund 40.000 jährlichen Neuerscheinungen sind Übersetzungen, die meisten davon aus dem Englischen, aber zunehmend gewinnt auch die deutschsprachige Literatur an Bedeutung. Das lässt sich am Sortiment nahezu jeder Buchhandlung in Taiwan ablesen, aber auch am Angebot der Verlage auf der jährlich abgehaltenen Buchmesse in Taipeh (Taibei). Für die Übersetzerin Wei Tang ist die große Offenheit gegenüber fremden Kulturen und Sprachen quasi naturgegeben: "Wir leben auf einer kleinen Insel und sind daher neugierig auf die große weite Welt. Es gibt eine Sehnsucht nach dem Fremden."
Bestsellerautor Frank Schätzing
Wei Tang gehört zu den wichtigsten Vermittlern von deutschsprachiger Literatur nach Taiwan. Sie hat zum Beispiel Juli Zeh, Cornelia Funke und Charlotte Roche ins Chinesische übersetzt. Beständig ist sie unterwegs zwischen Berlin und Taipeh. In Deutschland wirbt sie für die hierzulande wenig beachtete taiwanische Literatur; im März begleitete sie taiwanische Schriftsteller ans Literarische Colloquium Berlin und zur Leipziger Buchmesse.
In ihrem Heimatland macht sie auf deutsche Schriftsteller aufmerksam. Und dabei hat sie es deutlich leichter. Zahlreiche taiwanische Verlage führen deutschsprachige Titel in ihren Programmen – mit einigem Erfolg. Übersetzungen, wie Frank Schätzings Spannungsroman "Der Schwarm" oder Ferdinand von Schirachs Shortstory-Band "Verbrechen", zählen zu den vielgelesenen Büchern in Taiwan. Schätzings Nachfolgeroman "Limit" liegt in diesem Frühsommer im Stapel in vielen Buchhandlungen.
In den meisten Ländern verkaufen sich einheimische Schriftseller besser als übersetzte. Aber in Taiwan ist das umgekehrt." Auf die knappe Formel bringt es Rex How. Der Verleger von Locus Publishing ist eine der prägenden Gestalten in der taiwanischen Verlagsszene. Er hat manche Veränderung miterlebt. Aber die von ihm angeführte spezielle taiwanische Buchmarkt-Regel gilt seit vielen Jahren unverändert.
Gewachsene Sprachkompetenz
Die meisten Übersetzungen aus dem Deutschen hat dabei der Verlag Business Weekly im Programm, der so unterschiedliche Autoren wie Niklas Luhmann, Elfriede Jelinek, Daniel Kehlmann und Arno Geiger veröffentlicht. Als Grund für den Anstieg sieht die Cheflektorin Feng Yi Cheng nicht zuletzt eine gewachsene Sprachkompetenz in den Verlagen: "Als ich vor 15 Jahren bei Business Weekly begonnen haben, erschien alle zwei Jahre eine Übersetzung aus dem Deutschen. Mittlerweile veröffentlichen wir jedes Jahr drei bis fünf solcher Bücher. Gab es früher zwei Lektoren, so sind es jetzt vier, die Deutsch sprechen und verstehen können."
Der Andrang am Messestand von Business Weekly scheint Jahr für Jahr noch ein bisschen größer zu werden. Doch nicht nur dort. Jedes Jahr aufs Neue wird die Buchmesse in der taiwanischen Hauptstadt zur größten und interessantesten Buchhandlung im Land. Und das will etwas heißen, denn die Auslagen in den Buchläden von Taipeh sind derart üppig, dass Besucher allein ob der schieren Fülle und Vielfalt überwältigt sind. Die große Buchhandelskette Eslite – mit Filialen im gesamten Stadtareal – lockt überdies mit Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten.
Verlockung für chinesische Verleger
Vor allem die Messe ist dabei keineswegs allein bei Taiwanern beliebt. Fachleute aus China informieren sich hier Jahr für Jahr über internationale Autoren und Trends. "Verleger und Lektoren vom chinesischen Festland kommen zur Buchmesse, um zu schauen, was in Taiwan veröffentlicht wurde. Die Buchmesse in Taipeh ist für chinesische Verleger und Lektoren ein Fenster zur Welt", sagt Linden Lin vom Verlag Linking. Er muss es wissen, ist er doch nicht nur einer der bekanntesten Verleger in Taiwan, sondern war zudem auch Chef der Taipeh-Buchmesse. Andere Verleger bestätigen seine Einschätzung: Ein Roman, der es von Europa nach Taiwan geschafft hat, ist China und damit einer potenziell riesigen Leserschaft ein entscheidendes Stück näher gekommen.
Zwar prägen in Taiwan die traditionellen chinesischen Langzeichen das Schriftbild, während in China die vereinfachten Kurzzeichen Standard sind, doch die Übertragung ist simpel, geschieht per Mausklick am Computer. Weitaus problematischer wirkt hingegen die restriktive Publikationspolitik in der Volksrepublik.
Zensur in China
Yu-Shiuan Chen von der in Taipeh ansässigen Literaturagentur Bardon Chinese, die unter anderem die Buchrechte von Verlagen wie Diogenes und Kiepenheuer & Witsch nach Taiwan, Hongkong und China verkauft, hat Erfahrungen mit diversen Einschränkungen machen müssen: "Zensur ist immer noch weit verbreitet in China. Bücher, die bestimmte politische und religiöse Themen behandeln oder in denen Sexualität eine wichtige Rolle spielt, können nicht oder nur sehr eingeschränkt publiziert werden. Das heißt, einzelne Passagen müssen gestrichen oder umgeschrieben werden. Wenn Autoren solche Eingriffe ablehnen, erscheinen die Bücher nicht."
So lange die kommunistische Partei in Peking streng darüber bestimmt, was die Bürger in dem Riesenreich lesen dürfen, bleiben die Auslagen der Buchhandlungen und die Buchmesse in Taipeh wohl weiterhin die wichtigsten großen Fenster für die chinesisch-sprachige Welt in den Westen. Zum Glück stehen sie weit offen.