Lesen als Luxus
6. Dezember 2012Mexiko mit seinen gut 110 Millionen Einwohnern stellt rund ein Viertel der Menschen, die weltweit mit Spanisch als Muttersprache aufwachsen. Trotz des seit Jahren tobenden Kriegs der Drogensyndikate gilt es als eines der wirtschaftlichen Musterländer Lateinamerikas, mit Wachstumsraten von rund vier Prozent im Jahr. Das hat damit zu tun, dass die Ölpreise auf hohem Niveau liegen, und auch damit, dass viele US-Unternehmen ihre Produkte beim südlichen Nachbarn fertigen, wo das Lohnniveau nicht einmal ein Viertel dessen beträgt, was in den USA üblich ist.
Land ohne Bücher
Aber: Das Bildungssystem gilt als hoffnungslos veraltet. Mexiko ist in weiten Teilen ein Land ohne Bücher: Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung können weder lesen noch schreiben, nur sechs Prozent der mexikanischen Kommunen verfügen über eine Buchhandlung, weniger als die Hälfte der Mexikaner liest Bücher. Der wichtigste Grund dafür: Die Bücherpreise liegen auf dem Niveau, das man in Europa gewohnt ist – und oft sogar darüber. Ein durchschnittliches Taschenbuch kostet umgerechnet etwa neun Euro; ein Bilderbuch in ordentlicher Papp-Ausstattung geht für das Doppelte über den Tisch. Wenn eine Familie mit einem Monatseinkommen von nicht einmal 300 Euro über die Runden kommen muss, sind Bücher also ein unerreichbarer Luxus.
Solche Beobachtungen, wie sie der mexikanische Buchbranchenverbands CANIEM anstellt, lassen sich in allen Ländern Lateinamerikas machen. Trotz des Wirtschaftswachstums bleibt die Kaufkraft bei der Masse der Bevölkerung gering und damit auch die Möglichkeit, dass Menschen in Bildung investieren und Bücher kaufen können.
Kinder- und Jugendbücher bei Übersetzungen gefragt
Viele Regierungen Lateinamerikas haben deshalb Buchankaufsprogramme aufgelegt und versorgen dadurch Schulen mit Lesematerial. So wählt zum Beispiel das mexikanische Kultusministerium (SEP) seit mehr als einem Jahrzehnt in jedem Jahr rund 600 Titel aus und kauft sie in hoher Auflage an. So viele des Ankaufens werte Titel gibt allerdings die gesamte spanischsprachige Buchbranche nicht her: Mit dem Ankaufsprogramm hat das SEP ein rasch wachsendes Übersetzungsgeschäft im Bereich der Kinder- und Jugendbücher geschaffen. Unter den 576 Titeln, die im Jahr 2011 aus dem Deutschen ins Spanische übersetzt wurden, sind deshalb mehr Kinder- und Jugendbücher zu finden, als aus jedem anderen Segment des Buchmarkts.
Deshalb waren die Erwartungen groß, als Deutschland im Jahr 2011 als Ehrengast der Buchmesse in Guadalajara auftrat: Ein gutes Dutzend Autoren kam in den Westen Mexikos, angeführt von der Nobelpreisträgerin Herta Müller. Viel wurde gesagt über die guten Beziehungen zwischen Mexiko und Deutschland, über die Bewunderung für das Land von Goethe, Schiller und Wolf Erlbruch und darüber, dass mit diesem Auftritt der Durchbruch für die deutsche Gegenwartsliteratur in Lateinamerika erfolgt sei.
Ein Jahr später sah man Wolf Wondratschek und Ingo Schulze etwas verloren über die Messe gehen. Von einem Mehr an Übersetzungen deutscher Titel, die nicht Kinder- und Jugendliteratur sind, war keine Rede mehr. Es ist wohl auch in Mexiko so, dass Festtagsreden und Alltagsgeschäft wenig miteinander zu tun haben.
Spanien dominiert den Buchmarkt in Lateinamerika
Der Teilbereich Bildungsmarkt ist im Aufwind: Längst haben spanische Großverlage wie Planeta oder Santillana, aber auch internationale Riesen wie der Bertelsmann-Ableger Random House Mondadori (RHM), der britische Pearson-Konzern oder die französische Hachette-Gruppe Gefallen gefunden an diesem lukrativen Geschäft in Lateinamerika. Die große Attraktion dabei: Mit staatlichen Institutionen als Abnehmern muss man sich wenig Sorgen machen um Vertrieb und Marketing.
Allerdings soll gesagt sein, dass Planeta, Santillana und RHM auch als belletristische Verlage einen enormen Beitrag zur Entwicklung der Literatur Lateinamerikas geleistet haben, von Ikonen wie García Marquez oder Vargas Llosa bis zu den vielen jungen Autoren, die dieser Generation folgen. Rund die Hälfte des Programms der verschiedenen regionalen Ableger dieser Konzerne kommt aus Lateinamerika. Insgesamt stammt aber bis heute der größte Teil der Bücher aus spanischen Verlagen; das zur UNESCO gehörige "Regionalzentrum zur Entwicklung des Buchs in Lateinamerika und der Karibik" (CERLALC) geht davon aus, dass – je nach Genre – deutlich mehr als 70 Prozent der angebotenen Titel importiert sind.
Die spanischsprachige Welt: getrennt durch die gemeinsame Sprache
Für die unabhängigen Verlage Lateinamerikas ist dies Fluch und Segen zugleich: Fluch, weil die spanischen Verlage relativ einfach die erfolgreichen lateinamerikanischen Autoren abwerben können. Segen, weil das iberische Spanisch heute viele Unterschiede zu den Varianten des Spanischen zeigt, die auf dem Subkontinent gesprochen werden. Bei Belletristik mögen solche Unterschiede erträglich sein, aber welche Eltern lassen ihre Kinder gerne Bücher lesen, in denen Wörter stehen, die im eigenen Land ungebräuchlich sind oder sogar eine andere Bedeutung angenommen haben?
Für internationale Verlage und ihre Autoren stellt das ein Problem dar: Eigentlich müsste man zwischen Feuerland und dem Río Grande jeweils eigene Übersetzungsreche verkaufen. Allerdings bestehen zum einen die Iberer meist auf den Vertriebsrechten für die gesamte spanischsprachige Welt, zum anderen wären einzelne Lizenzverkäufe nach Ecuador, Peru oder Guatemala wirtschaftlich wenig sinnvoll. Zähneknirschend nimmt man deshalb in Kauf, dass nur die wenigsten Titel, die bei spanischen Verlagen übersetzt werden, ihren Weg über den Atlantik finden.