Wie die Stasi das Ende der DDR erlebte
3. Oktober 2019"Streng geheim!" steht auf dem leicht vergilbten Blatt Papier vom 8. Oktober 1989 zur "gegenwärtigen innenpolitischen Lage in der DDR". Tags zuvor hatte sich das kommunistische Regime mit Staats- und Parteichef Erich Honecker an der Spitze noch selbst gefeiert: 40 Jahre Deutsche Demokratische Republik (DDR). Doch darum geht es gar nicht in dem siebenseitigen Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), kurz Stasi. Im Gegenteil: Es befürchtet, "dass die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR ernsthaft in Gefahr ist".
Wie berechtigt ihre Sorge ist, zeigt sich einen Monat später: Am 9. November fällt die Berliner Mauer. Das Ende der DDR ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit; kein Jahr vergeht bis zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Zu diesem Zeitpunkt ist die Stasi schon längst Geschichte. Sie löst sich auf Druck von Bürgerrechtlern während der friedlichen Revolution selbst auf. Ironie der Geschichte: Hinweise auf den nahenden Exitus finden sich in den geheimen Berichten an die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands), die jetzt unter dem Buchtitel "Die DDR im Blick der Stasi" für das Jahr 1989 vorliegen.
In Leipzig ist das Stasi-Bezirksamt "handlungsunfähig"
In der "Information Nr. 519/89" vom 5. Dezember 1989 ist detailliert beschrieben, wie etwa 50 Oppositionelle in das Leipziger Stasi-Bezirksamt eindringen. Demnach halten sie das Objekt "an seinen neuralgischen Punkten" besetzt. Die Folge: "Das Bezirksamt ist handlungsunfähig." Treibende Kräfte sind Gruppierungen mit programmatischen Namen: Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), Neues Forum (NF), Demokratischer Aufbruch (DA). Namen, die im Herbst 1989 in den Stasi-Berichten immer häufiger auftauchen.
Die Protagonisten werden im typischen Stasi-Jargon beschrieben. Es handele sich "fast ausschließlich um bekannte reaktionäre kirchliche Amtsträger und andere feindliche, oppositionelle Kräfte". Leute wie Peter Grimm, IFM-Mitbegründer und Redakteur der Untergrundzeitung "Grenzfall". Ein Schlüsselerlebnis ist für den damals 24-Jährigen die Reaktion der DDR auf die brutale Niederschlagung der Demokratie-Bewegung in China: Die Machthaber in Ost-Berlin solidarisieren sich demonstrativ mit den Kommunisten in Peking.
Hans Modrow holt DDR-Bürgerrechtler in die Regierung
"Es war eine Zuspitzung absehbar", sagt Grimm 30 Jahre danach. "Wer sich irrational verhält, ist nicht berechenbar." Die Angst vor einer ähnlichen Reaktion des bedrängten DDR-Regimes gegenüber der eigenen Bevölkerung ist 1989 erschreckend real. Das ahnt wohl auch der für den Bezirk Dresden verantwortliche SED-Politiker Hans Modrow. Im Westen Deutschlands gilt er als Hoffnungsträger. Einer, der nach dem Vorbild des damaligen Moskauer Kreml-Chefs Michail Gorbatschow demokratische Reformen in der DDR anstoßen könnte.
Und tatsächlich ist es Modrow, der schon vier Tage nach dem Mauerfall in Berlin als neuer Regierungschef einen neuen Kurs einschlägt. Bürgerrechtler drängen ihn am sogenannten Runden Tisch dazu, im Februar 1990 Oppositionelle in sein Kabinett zu berufen. Modrows Versuch, die Stasi unter der Bezeichnung "Amt für Nationale Sicherheit" (AfNS) in die neue Zeit zu retten, schlägt fehl.
Kein einziges Wort über den Fall der Berliner Mauer
Die 40 Jahre lang allmächtige Stasi wird am Ende so sehr von den Ereignissen überrollt, dass sie mit keinem einzigen Wort die epochale Grenzöffnung am 9. November protokolliert. Die Historikerin Daniela Münkel rätselt noch heute über den Grund für diese verblüffende Lücke in den ansonsten gewohnt pedantisch geführten Stasi-Berichten des Jahres 1989. Eine mögliche Erklärung: Der Mauerfall wurde weltweit live im Fernsehen gezeigt. "Was soll man da noch berichten?", meint die Herausgeberin des aktuellen Bandes der Bücher-Reihe "Die DDR im Blick der Stasi".
Im November 1989 sei die Stasi nur noch mit ihrer eigenen Existenzsicherung beschäftigt gewesen, sagt Daniela Münkel. Dieses vergebliche Bemühen spiegelt sich auch in den Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit wider. Als die Mauer schon fünf Tage offen ist, betreibt die Stasi in einem Bericht über die "gegenwärtige Lage" sogar Werbung in eigener Sache:
"In vielfältigen Diskussionen bringen die Mitarbeiter des MfS ihren Willen und ihre Bereitschaft zum Ausdruck, den Kurs der Wende aktiv zu unterstützen und mitzuhelfen bei der Wiederherstellung des Vertrauensverhältnisses zwischen Partei und Volk."
Dafür ist es aber schon viel zu spät. Die Zeitenwende ist unumkehrbar. Das Fazit der Historikerin Daniela Münkel: "Im ersten Halbjahr 1989 hat die Stasi noch alles im Griff." Das ändert sich, als aus der DDR-Opposition eine Massenbewegung wird. Man versucht zu retten, was noch zu retten ist. Und am Ende wird das MfS zum "Chronisten des eigenen Untergangs".