LGBTQ im Libanon: Weniger Freiraum, weniger Sicherheit
28. November 2021Gerade einmal 600 Meter trennen das Büro von "Helem" vom Zentrum der Explosion im Beiruter Hafen, die im August vergangenen Jahres weite Teile der libanesischen Hauptstadt zerstörte. "Helem" ist ein Kürzel, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben mehrerer arabischer Wörter. Ins Deutsche übertragen, lautet der vollständige Name: "Libanesischer Schutz(verein) für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen". Im englischen und deutschen Sprachgebrauch hat sich dafür insbesondere das Kürzel LGBTQ etabliert.
Die Zentrale des im populären Ausgehviertel Mar Mikhail residierenden Vereins wurde fast vollständig zerstört. Auch zum Zeitpunkt der Explosion hielten sich Menschen in dem Büro auf. Doch die Anwesenden hatten Glück im Unglück: Zwar wurden auch sie verletzt, allerdings niemand schwer. "Gott sei Dank kam niemand ernsthaft zu Schaden", sagt Tarek Zeidan, Geschäftsführer von Helem, im Gespräch mit der DW. Es sei eine surreale und erschütternde Szene gewesen, erinnert sich Zeidan. "Das Büro war komplett zerstört. Wir haben sämtliche Papiere und Akten verloren - vor allem aber einen sicheren Ort für die LGBTQ-Gemeinschaft."
Arbeit wieder aufgenommen
Doch nun, 15 Monate später, ist wieder Leben in das Büro eingekehrt. Helem hat seine Arbeit wieder aufgenommen. Damit hätten LGBTQ-Menschen wieder eine Anlaufstelle, in der sie sich ohne Diskriminierungen aufhalten könnten, sagt Zeidan.
Doch die Explosion hat nicht nur das Büro, sondern auch weite Teile der Mar-Mikhail-Gegend und des Stadtviertels Gemmayzeh zerstört, in dem viele LGBTQ-Menschen lebten - vor allem jene, die es sich finanziell leisten konnten. In dem Viertel seien die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch, sagt Zeidan. Sämtliche Clubs, Bars, Cafés und Restaurants würden aus ökonomischen Gründen betrieben, sagt Zeidan. "Unser Büro ist der einzige nicht-kommerzielle Ort."
Flüchtlinge in bedrückender Lage
Die enormen Zerstörungen hatten tiefgreifende Auswirkungen auf das tägliche Leben der dortigen LGBTQ-Szene. Noch stärker seien die Folgen allerdings in den angrenzenden Stadtvierteln zu spüren. Deren Infrastruktur sei vielfach veraltet, sagt Zeidan. Dort lebten zugleich viele der weniger wohlhabenden LGBTQ-Menschen, erzählt er, darunter auch mehrere syrische Flüchtlinge. "Die Explosion hat ihre Häuser zerstört und sie obdachlos gemacht", sagt Zeidan. "Viele von ihnen mussten daraufhin zu ihren Familien zurückkehren - genau dorthin also, von wo sie zuvor oft geflohen waren, um Gewalt, Diskriminierung, psychischem Druck und Misshandlungen durch Familienmitglieder, Verwandte oder Nachbarn zu entgehen."
Angewiesen auf die Eltern
Ähnlich erging es auch Mana Jumana (Name von der Redaktion geändert). Die lesbische Frau lebte im Umfeld von Mar Mikhail. Zum Zeitpunkt der Explosion war sie zu Hause und bereitete sich auf einen Abend mit schwulen Freunden vor. Über den Moment der Explosion zu sprechen, fällt ihr immer noch schwer. Nur unter Tränen vermag sie über die Detonation und die anschließende Suche nach Freundinnen und Freunden zu sprechen. Körperliche Wunden mögen verheilt sein. Die durch die Explosion gerissenen seelischen Wunden allerdings sind geblieben.
Wie viele ihrer Freunde sah auch Jumana nach der Explosion keine andere Möglichkeit, als zurück zu ihren Eltern zu gehen. Drei Jahre zuvor hatte sie ihr Elternhaus im Streit verlassen, seitdem hatte sie kaum mehr Kontakt zu ihrer Familie. Doch durch die Detonation verlor Jumana ihren Arbeitsplatz und damit ihre finanzielle und soziale Unabhängigkeit. So musste sie ins Elternhaus zurückkehren. Dieses Mal sei die Atmosphäre aber besser gewesen, sagt sie. Ihre Mutter und ihre Schwester hätten unter dem Eindruck der Zerstörungen mehr Verständnis für sie gezeigt. Andere Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft hätten allerdings weniger Glück, fügt sie an.
Ablehnung, Schikane, Entfremdung
Viele LGBTQ-Menschen hätten nach der Explosion von Beirut, Hauptstadt und kulturelles Zentrum des Landes, in weiter entfernte Städte wie Tripoli, in preisgünstigere Orte in den Außenbezirken der Stadt oder aufs Land ziehen müssen, sagt Zeidan. "Dort dürften sie erneut einer Gesellschaft ausgesetzt sein, die sie möglicherweise ablehnt und schikaniert", fürchtet Zeidan.
Ghiwa Abi Haidar, eine in den digitalen Medien stark engagierte Aktivistin, beendete ihre "persönliche Beziehung" zur Mar-Mikhail-Gegend hingegen aus freien Stücken. Sie lebt zwar weiterhin im Umfeld der Straße. Doch habe sie das Gefühl, dort nicht mehr so selbstverständlich wie früher leben zu können, sagt sie im Gespräch mit der DW: "Als ich Mar Mikhail zum ersten Mal nach der Explosion besuchte, hatte ich die Opfer der Explosion vor Augen. Ich fragte mich, was ich an diesem Ort tun sollte, an dem so viele Menschen starben, und an dem auch ich selbst fast gestorben wäre." Zwar habe sie versucht, ihre frühere Beziehung zu dem Ort wiederherzustellen. Doch gelungen sei ihr das nicht. "Drei Wochen lang versuchte ich mein gebrochenes Verhältnis zu Mar Mikhail wiederherzustellen, meine alten Gefühle für diese Straße zu reaktivieren. Doch ich habe es nicht geschafft."
Während der ersten Tage nach der Explosion habe sie geholfen, die Straßen wieder aufzuräumen, sie von den Trümmern und dem Staub zu befreien, sagt Abi Haidar. Doch bis heute fühle sie sich fremd. Ihre Freunde lebten inzwischen in Gebieten weitab der Hauptstadt verstreut, andere hätten Zuflucht im Exil gesucht, sagt Abi Haidar. Ihre Lebensgewohnheiten hätten sich nach der Explosion völlig verändert. "Ich habe keine Verbindung mehr zu dem Ort. Die Bindungen, die wir über Jahre knüpften, sind aufgelöst. Es ist schwierig, sie in einer Gesellschaft wiederherzustellen, die unter Ausgrenzung und Entfremdung leidet."
Hohe Arbeitslosigkeit
Viele LGBTQ-Personen haben nach der Explosion zudem mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Laut einem gemeinsam mit Helem vor einigen Monaten verfassten Bericht der NGO Oxfam liegt die Arbeitslosenquote im Libanon nach der Explosion bei 40 Prozent - die der zur LGBTQ-Gemeinschaft gehörenden Libanesen hingegen ist mit knapp 80 Prozent doppelt so hoch.
Zudem, so die Aktivistin, sei der Zugang zum nationalen Gesundheitssystem für LGBTQ-Menschen oft erschwert, denn dieses System neige zu einem diskriminierenden Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen.
Alle diese Missstände beeinträchtigten ihr Leben, sagt Abi Haidar. Sie geht - wie viele ihrer Landsleute - davon aus, dass sie aufgrund der Corona-Pandemie, der Wirtschaftskrise und der Explosion im Libanon kein angemessenes Leben mehr wird führen können. "Ich weiß, dass es im Libanon keinen Platz für mich gibt, ich muss jetzt auswandern." Sie träumt von Liebe, Partnerschaft, Heirat. Das aber, sagt sie, sei unmöglich in den Trümmern von Beirut.
Aus dem Arabischen adaptiert von Kersten Knipp.