Lia Rodrigues: Rassismus und Wut tanzen
28. September 2021Verzerrte Gesichter, zuckende Körper. Tänzerinnen und Tänzer kommen zusammen, stoßen sich ab, schwanken, Blut sprudelt. Die Bewegungen wirken wie eine Mischung aus Angriff und Verteidigung, Nähe und Abscheu. Schon allein die Ausschnitte aus dem Stück "Furia" von Lia Rodrigues verraten, worum es der Choreographin geht: um starke koloniale und rassistische Zerrbilder.
Die Traumata der brasilianischen Gesellschaft gleichen denen anderer Länder, die von kolonialer Gewalt geprägt sind: Mit ihrem Schmerz, der Wut, der Ohnmacht. Mit der Wucht dieser Emotionen arbeitet die brasilianische Choreographin Lia Rodrigues.
"Unüberwindbare Grenzen der Ungleichheit"
"Wie kann man sie zeigen: die Realitäten der unüberwindbaren Grenzen der Ungleichheit", fragt die Choreographin in einem Filmbeitrag von 2016. "Die Grenzen sind wie Wunden, die nie verheilen. Offen und voller Eiter."
Rassismus, Gewalterfahrungen, Macht und Ohnmacht - das sind die Themen, die Lia Rodrigues nicht nur in ihren Stücken verarbeitet. Ihre Arbeitsweise ist ein Statement zum Abbau von Hürden im Tanz: In ihrer Kompagnie arbeiten Menschen verschiedenster Herkunft, Geschlechter und Körperformen.
Kompagnie im Armenviertel
Lia Rodrigues kam 1956 in Sao Paolo in Brasilien zur Welt. Nach der Ausbildung im klassischen Ballett tanzte sie bei verschiedenen Kompanien in Brasilien und Frankreich. Die Lia Rodrigues Companhia de Dancas gründete sie 1990 in Rio de Janeiro - zunächst für klassische an den Akademien ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer. Doch 2004 öffnete sie die Kompanie für begabte Tänzerinnen und Tänzer aus den Favelas.
Direkt am Rand der Favela de Maré in Rio de Janeiro initiierte Lia Rodriguez 2009 das "Centro de Artes da Maré" und die "Free School of Dance", wo seitdem gemeinsam trainiert und geprobt wird. Ihr geht es auch darum, jungen Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zur Tanzkunst zu ermöglichen - und einen Weg weg von der Straße.
Internationale Förderung
Lia Rodrigues Stücke wirkten weit über Südamerika hinaus und wurden vielfach Europa gezeigt - insbesonders mit Frankreich ist Lia Rodrigues eng verbunden.
Voller Sorge hat die Kunstschaffende und ihre Gruppe die Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten verfolgt. Viele der ohnehin seltenen Kulturförderungen wurden seit 2019 ersatzlos gestrichen. Rodrigues' Kompanie finanziert sich seitdem fast ausschließlich durch europäische Fördermittel.
Würdigung als Künstlerin und für ihr soziales Engagement
Der Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken wird in der Kategorie Tanz 2021 zum ersten Mal verliehen, er ist mit 25.000 Euro dotiert. Der Preis wird seit 1990 von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) für herausragende künstlerische und kulturelle Leistungen ausgelobt, es ist die höchste Auszeichnung der katholischen Kirche auf dem Kultursektor in Deutschland.
"Politische Kunst oder vielleicht 'politisierende Kunst' ist so notwendig wie selten zuvor. Kunst wie die von Lia Rodrigues", würdigte DW-Intendant Peter Limbourg die Künstlerin in seiner Laudatio. "Lia Rodrigues bewegt sich in einer Tradition, die auch eine Tradition des Christentums ist: Gewaltfrei Widerstand zu leisten gegen Unterdrückung, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung."
Rodrigues' Tanzstücke "entstehen aus der Gemeinschaft mit den Ärmsten, mit den durch Rassismus und Diskriminierung Ausgeschlossenen. Die Choreographin versteht Tanz als eine Grundform menschlicher Bildung, die für alle da ist", begründete die Jury ihre Wahl. Dabei zeige Lia Rodrigues eine einzigartige Kombination "eines großartigen künstlerischen Tanzwerks mit einem humanitären Engagement aus dem tiefen Glauben an die transformatorische Kraft des Tanzes".
Willkommene Finanzspritze
Die Corona-Pandemie hat Brasilien, insbesondere die Favelas und somit auch die Tanzkompanie von Rodrigues, hart getroffen. "Das Preisgeld kann der Companhia dabei helfen, mehrere abgesagte internationale Auftritte auszugleichen und neue Produktionen für die Zeit danach vorzubereiten", so Lia Rodrigues.
Tänzerischer Dialog im Strudel der Pandemie
Rodrigues' letztes Projekt "Nororoca" wurde zwar im Januar 2020 noch uraufgeführt, lag aber seitdem auf Eis. Es ist eine Weiterentwicklung von Rodrigues' Stück "Pororora" von 2009, nun transferiert auf die weißen Körper der Tänzerinnen und Tänzer der norwegischen "Carte Blanche"-Kompagnie. Im November wird es in Paris gezeigt. Die Auswirkungen der Pandemie werden noch lange spürbar bleiben - insbesondere an den Orten, wo Rodrigues und ihre Tänzerinnen und Tänzer sich bewegen: dort, wo Diskriminierung, Rassismus und Gewalt das Leben bestimmt.