Libyen: Zwischen Chaos, Korruption und Geopolitik
5. Juli 2022Brennende Autoreifen, lautstark vorgebrachte Forderungen nach baldigen Wahlen, aber auch nach besserer Stromversorgung und niedrigeren Brotpreisen: Vehement forderten die libyschen Bürger am vergangenen Wochenende ihre Politiker auf, endlich an die Arbeit zu gehen und sich um die Belange der Bürger zu kümmern. Sie taten dies auf unterschiedliche Weise: Während die meisten Demonstranten in der Hauptstadt Tripolis friedlich blieben, zündeten Protestierende in der Stadt Tobruk, dem konkurrierenden Machtzentrum, das dortige Parlamentsgebäude an. Ein Video zeigt einen Bulldozer, der den Eingang des Gebäudes rammte.
Inzwischen ist der Protest abgeflaut, doch wird nicht ausgeschlossen, dass er wieder aufflammen und an Vehemenz zunehmen könnte. So appellierte die UN-Sonderberaterin für Libyen, Stephanie Williams, an alle Beteiligten, Ruhe zu bewahren. Gewaltakte wie die Stürmung des Parlaments seien "völlig inakzeptabel".
Die Proteste seien ein Aufruf an die libyschen Politiker, ihre Differenzen zu überwinden und Wahlen in die Wege zu leiten, erklärte sie in einem weiteren Tweet.
Sichtbares Staatsversagen
Den Demonstranten gehe es vor allem darum, den seit Jahren stockenden Einigungs- und Friedensprozess voranzubringen, sagt Thomas Claes, Projektleiter des in Tunesien residierenden Libyen-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Denn die Wahlen sind ja aus politischem Opportunismus gescheitert. Eine ganze Reihe führender Akteure klammert sich an die Macht und versucht, die Wahlen zu unterbinden."
Dass viele Politiker weiterhin das eigene über das nationale Interesse stellen, hat Auswirkungen. Und die Libyer bekommen sie seit Jahren zu spüren. Zwar leben sie in einem potentiell wohlhabenden Ölstaat, doch der versagt klar erkennbar an vielerlei Fronten.
So bilden sich vor den Tankstellen lange Schlangen, der Wert des Dinars zerfällt, die Lebensmittelpreise steigen. Die staatlichen Einrichtungen sind marode, das Wasser- und Energiesystem funktioniert nur ungenügend. "Stattdessen herrschen Milizen, die zunehmend mafiöse Strukturen entwickelt haben", sagt Thomas Claes. "Die Milizen haben einzelne Sektoren des Staates gekapert und versuchen, möglichst viel Geld aus ihnen zu pressen."
Derweil versucht Abdel Hamid Dbaiba, einer von zwei - letztlich gleichermaßen umstrittenen - Premiers des Landes, die Lage zu beruhigen: "Wenn Wahlen stattfinden, werden wir die Macht anschließend abgeben." Ursprünglich allerdings sollte sein Mandat nur bis zu den für Dezember vergangenen Jahres vorgesehenen Wahlen gelten. Auch sein Konkurrent, der Geschäftsmann Fatih Baschagha, ist nicht hinreichend legitimiert: Er wurde im Februar dieses Jahres zwar vom Abgeordnetenrat in Tobruk zum Premierminister ernannt - doch inwiefern dieser Schritt legitim war, ist umstritten.
Wiederholt kam es zu teils gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den Anhängern der beiden Premiers. Nach einem gescheiterten Putschversuch im Mai war es in Tripolis zu schweren Kämpfen gekommen. Auslöser war der Versuch des Baschaghas, Dbaibas Regierung mit Waffengewalt aus Tripolis zu vertreiben.
"Anstatt sich in Richtung einer legitimen Regierung zu bewegen, die das Land letztlich stabilisieren kann, sind die Libyer einmal mehr Geiseln in einem Showdown zwischen zwei allein auf den eigenen Vorteil bedachten Machtzentren", schrieb vor kurzem der Libyen-Experte Tarek Megerisi vom renommierten Think Tank "European Council on Foreign Relations" in einer Analyse.
Internationale Akteure
Verschärft wird die Lage durch die Interessenpolitik internationaler Akteure. Nicht nur regionale Schwergewichte wie Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate mischen in Libyen mit, auch die USA, Frankreich, Italien und nicht zuletzt die Türkei sowie Russland verfolgen jeweils eigene, wirtschaftliche, macht- und sicherheitspolitische Interessen. Einige - nicht zuletzt westliche - Länder befürchten, mit Baschagha als Ministerpräsident könnte der Einfluss Russlands wachsen. Andere sorgen sich, unter Dbaiba könnten islamistische Kräfte in Libyen eine größere Rolle spielen.
Immerhin ist mit internationaler Hilfe 2020 ein Waffenstillstand in die Wege geleitet worden, der trotz immer wiederkehrender Verstöße und partieller Eskalationen bislang im Großen und Ganzen hält. Tatsächlich, heißt es in einer Studie des Think Tanks International Crisis Group (ICG), verspürten sowohl die internationalen wie auch die lokalen Akteure derzeit wenig Neigung auf eine weitere Runde bewaffneter Auseinandersetzungen.
Allerdings: "In der durch den Ukraine-Konflikt ausgelösten angespannten politischen Atmosphäre könnte sich die Lage rasch wieder verschlechtern", heißt es warnend in dem ICG-Papier.
Besorgter Blick auf Russland
Der russische Angriff auf die Ukraine hat die internationale Wahrnehmung des Libyen-Konflikts verändert, jedenfalls in den westlichen Staaten. Als enorme Herausforderung sehen diese etwa die fortgesetzte Präsenz des russischen Söldnerunternehmens Wagner in Libyen. Zwar hat dieses einen Teil seiner Truppen in die Ukraine verlegt - doch rund tausend Söldner sollen weiterhin im Land sein. "Diese halten sich vor allem rund um strategische Erdöl-Einrichtungen, also Ölfelder und Raffinerien auf", sagt Thomas Claes von der Ebert-Stiftung. "Das heißt, sie haben einen direkten Zugriff auf die Produktion."
In den vergangenen Wochen ist diese Produktion massiv eingebrochen. Unklar ist noch, ob dies auf den Einfluss Russlands oder inner-libyscher Akteure zurückgeht. Auf diese Weise könnten Verbündete der Regierung in Tobruk tatsächlich versuchen, Druck auf die Zentralregierung in Tripolis auszuüben, so Claes. "Fakt ist aber auch: Je weniger Öl in Libyen produziert wird, desto weniger kommt in Europa an. Das kann die europäische Energiekrise zusätzlich verschärfen."
Doch die Wagner-Gruppe kann ihren Einfluss womöglich nicht nur bei Erdöl-Fragen geltend machen. In europäischen Hauptstädten herrsche Sorge, die Konfrontation mit Russland "könnte Moskau dazu veranlassen, die Wagner-Gruppe dazu einzusetzen, für Unruhe in Libyen, also an der Südflanke der NATO, zu sorgen", heißt es in der Studie der Crisis-Group. Dies könnte potentiell zu einer neuen Fluchtbewegung führen. Europa hätte dann eine weitere Krise zu bewältigen.