Libyerinnen wollen stärkere Armee
19. November 2013"Wir protestieren im Namen der unschuldigen Bürger, die friedlich gegen die Milizen auf die Straße gegangen sind und dafür ihr Leben gelassen haben", sagt Studentin Waad Mizdawi. Sie und Hunderte andere Frauen forderten auf dem Algerienplatz im Zentrum der libyschen Hauptstadt Tripolis die Entwaffnung der Milizen und die Stärkung von Polizei und Armee. "Das Blut der Märtyrer ist nicht umsonst geflossen", rufen die Demonstrantinnen im Chor. Ihre energische Präsenz auch nach Einbruch der Dunkelheit überrascht, da Sicherheitsprobleme vor allem die Bewegungsfreiheit der Frauen einschränken.
Unterschriften für den Abzug der Milizen
Waad sammelt Unterschriften für eine Petition an die Regierung. Wie viele Libyer denkt auch sie, dass diese nicht hart genug gegen die bewaffneten Gruppen vorgeht. Wie dringend das ist, haben die gewaltsamen Ausschreitungen in der Hauptstadt bewiesen. Dort war die Gewalt nach einer zunächst friedlichen Demonstration gegen die Milizen eskaliert.
Aus dem Hauptquartier einer aus Misrata stammenden Miliz waren dabei Schüsse auf die Demonstranten abgefeuert worden. Zur Vergeltung griffen andere Milizen diejenigen aus Misrata an. Nach offiziellen Angaben wurden mindestens 43 Menschen getötet und mehr als 450 verletzt.
Nur noch lokale Armee-Einheiten in Tripolis
Die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehenden Kampftruppen aus Misrata hatten ihren Griff um die Hauptstadt nicht lockern wollen. Inzwischen sind sie in der Defensive und haben sich seither schrittweise gen Osten zurückgezogen. Der hinterlassene Stützpunkt Gharghur - eine Ansammlung ehemaliger Villen und öffentlicher Gebäude unweit des Parlamentsgebäudes - wird nun von Kräften aus Tripolis bewacht. Die Männer am Checkpoint weigern sich, den Namen ihrer Einheit anzugeben. "Wir sind die Armee", lautet die knappe Antwort.
Der Generalstabschef hatte am Montag (18.11.2013) befohlen, dass sämtliche Truppen, die nicht aus Tripolis stammen, ihre Quartiere in der Hauptstadt räumen müssen. Dafür hat er lokale Armee-Einheiten beauftragt, deren Rolle zu übernehmen. Die ansonsten auf ihre revolutionären Ursprünge und Embleme stolzen Kämpfer geben sich seither neutral. Doch die Menschen sind skeptisch. Ironische Kommentare wie: "Wir haben einen Rekord gebrochen - noch nie hat ein Staat in drei Tagen eine Armee gebildet", machen die Runde. Denn noch haben in Libyen nicht unabhängige Streitkräfte das Sagen, sondern ein Gewirr aus rivalisierenden halboffiziellen Sicherheitskräften.
Kämpfe mit weitreichenden Folgen für Politik und Wirtschaft
Die Kämpfe haben sich vorerst beruhigt, doch die momentane Waffenruhe hängt an einem seidenen Faden. Verhandlungen zwischen der Regierung und Verantwortungsträgern in Misrata mussten abgebrochen werden, nachdem wütende Kämpfer aus der Stadt die Sitzung unterbrachen und Premierminister Ali Zeidan zur Abreise zwangen. Ohne eine politische Einigung kann es jedoch keinen Waffenfrieden geben.
Misrata spielt nicht nur in den staatlichen Institutionen, sondern auch in der Wirtschaft eine wichtige Rolle. Die Küstenstadt 200 Kilometer östlich von Tripolis beherbergt den größten kommerziellen Hafen Libyens und eine Freihandelszone. Der Konflikt gefährdet somit auch die Interessen ausländischer Firmen. Geschäftsleute aus Misrata mit Niederlassung in Tripolis haben zudem Angst vor Vergeltungsschlägen.
Überwältigende Herausforderungen
Das eigentliche Problem in Libyen geht weit über den aktuellen Konflikt hinaus. Abgesehen von Misrata halten auch andere Regionalmächte an ihrem Einfluss in der Hauptstadt fest. Am Jahresende läuft die Frist aus, bis zu der außerstaatliche Brigaden demobilisiert werden müssen. Davon ist Libyen in der Praxis noch weit entfernt.
Von Anfang an sind die Behörden falsch an die Aufgabe herangegangen, sagen Beobachter. Anstatt ganze Einheiten in die nationalen Sicherheitskräfte einzugliedern, hätte man sie auflösen und ihre Mitglieder als Individuen rekrutieren sollen. Diesen strategischen Fehler zu korrigieren, ist jetzt schwierig. Weiterhin verbreiten politische Morde und Entführungen Angst in der Bevölkerung und schränken den Handlungsspielraum der Entscheidungsträger ein. Der Sohn des Verteidigungsministers gilt seit über einem Monat als vermisst. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist er in der Hand von Milizen, die den Minister zum Rücktritt bewegen wollen. Gerüchte, laut denen der Entführte im früheren Milizenstützpunkt Gharghur gefangen sein sollte, haben sich bei der Räumung der Basis als falsch erwiesen.