Aidsprozess in Libyen
19. Dezember 2006Im Berufungsprozess um die angebliche Ansteckung libyscher Kinder mit AIDS sind die sechs Angeklagten am Dienstag (19.12.2006) zum Tode verurteilt worden. Das Berufungsgericht in Tripolis bestätigte damit ein Todesurteil in erster Instanz aus dem Jahr 2004, das vor einem Jahr aufgehoben worden war.
Den Angeklagten wird vorgeworfen, 426 Kindern in einem Krankenhaus in Benghasi absichtlich mit dem HI-Virus infiziert zu haben. Mehr als 50 Kinder sind seitdem an AIDS gestorben. Die Angeklagten nahmen das Urteil äußerlich regungslos auf. Sie wollen Berufung beim Obersten Gerichtshof einlegen.
Die Krankenschwestern und der Arzt sind seit Februar 1999 in Haft. 2004 waren die sechs Angeklagten zum Tode durch Erschießen verurteilt worden. Das Oberste Gericht Libyens hob das Urteil jedoch im Dezember 2005 auf und ordnete an, den Fall neu aufzurollen. Der Abschluss dieses Verfahrens war wiederholt aufgeschoben worden. Drei der Angeklagten sagten aus, ihre Geständnisse seien durch Folter erzwungen worden.
Jubel in Tripolis - Proteste in Bulgarien
Die Angehörigen der infizierten Kinder reagierten auf die Entscheidung des Gerichts mit Jubel. "Gott ist groß", rief Ibrahim Mohammed al Aurabi, der Vater eines betroffenen Jungen. "Lang lebe die libysche Justiz!" Schon vor der Urteilsverkündung hatten sich Eltern vor dem Gerichtsgebäude versammelt. Sie hielten Spruchbänder hoch, auf denen stand: "Tod den Kindermördern" oder "HIV made in Bulgarien".
In Bulgarien hatte es am Montag Demonstrationen für einen Freispruch der Krankenschwestern gegeben. Bulgarien kritisierte das Urteil am Dienstag und bekräftigte die Auffassung, wonach schlechte hygienische Verhältnisse in dem Krankenhaus für die HIV-Infektionen verantwortlich sind. "Unschuldige Menschen zum Tode zu verurteilen, ist ein Versuch, die wahren Schuldigen zu decken", sagte Parlamentspräsident Georgi Pirinski.
Rückschlag für die Beziehungen zur EU
Auch die EU-Kommission verurteilte die Todesurteile scharf. "Ich bin schockiert über diese Entscheidung, es ist eine große Enttäuschung", sagte EU-Justizkommissar Franco Frattini in Brüssel. Er forderte die Regierung in Tripolis auf, die Entscheidung zu widerrufen. Frattini sprach von einer gefährlichen Geste, die ein Hindernis für die Zusammenarbeit des nordafrikanischen Landes mit der Europäischen Union darstelle.
Sollte das Urteil vollstreckt werden, wäre dies ein Rückschlag in den Beziehungen Libyens zu Europa: Das Land hatte mit der EU eine Zusammenarbeit im Kampf gegen die illegale Einwanderung vereinbart.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem schrecklichen
Urteil. Ihre Gedanken seien bei den Verurteilten, sagte die
Kanzlerin. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bezeichnete die Todesurteile als "schockierende Nachricht". Die Vorwürfe seien "nach internationalen Gutachten nicht aufrechtzuerhalten."
Die Vereinten Nationen haben Libyen aufgefordert, die Beschuldigten nicht hinzurichten. Die Umstände des Urteils könnten gegen die internationalen Menschenrechtsgesetze verstoßen, sagte Jose Luis Diaz, Sprecher der UN-Menschenrechtskommission.
HI-Virus schon vorher übertragen
Ein milderes Urteil in dem Prozess hätte als ein Zeichen für die politische Annäherung Libyens an den Westen gegolten, die das Land vor wenigen Jahren eingeleitet hat. Zugleich wäre damit aber die Aufmerksamkeit auf die notorische Nachlässigkeit und schlechte Hygiene in libyschen Krankenhäusern gelenkt worden, die nach Ansicht westlicher Experten die eigentliche Ursache für die massive Verbreitung des HI-Virus ist.
Einer der Entdecker des AIDS-Erregers, der französische Arzt Luc Montagnier, sagte im ersten Prozess aus, das HI-Virus sei schon in der Klinik aufgetaucht, bevor die Krankenschwestern ihre Arbeit dort aufgenommen hätten. Auch eine kürzlich veröffentlichte Studie entlastet die Angeklagten. Das Virus sei übertragen worden, bevor die Krankenschwestern und der Arzt in Bengasi eingetroffen seien, heißt es in der Untersuchung, die das Fachmagazin "Nature" Anfang Dezember abdruckte. Die Ergebnisse basieren auf einer genetischen Analyse. (je)