Linken-Chefin Wissler im Wortlaut-Interview
23. August 2021Lesen Sie hier das komplette DW-Interview im Wortlaut mit Janine Wissler, Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2021 der Partei Die Linke (abgekürzt mit JW).
Moderatoren: Rosalia Romaniec (Leiterin Current Politics/ Hauptstadtstudio, abgekürzt mit RR) sowie Chiponda Chimbelu (DW-Reporter und -Redakteur, abgekürzt mit CC).
RR: Herzlich willkommen!
CC: Guten Tag!
RR: Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Bundestagswahl und selten war der Ausgang so offen wie dieses Mal. Wir sprechen mit Janine Wissler, sie ist Spitzenkandidatin der Linken. Guten Tag.
JW: Guten Tag.
CC: Frau Wissler, Sie sind Sozialistin und Spitzenkandidatin einer Partei, die immer gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr stimmt. Was denken Sie - was soll die Rolle Deutschlands sein in Afghanistan heute?
JW: Naja jetzt heute und in den nächsten Tagen geht es natürlich erst einmal darum, so viel wie möglich Menschen zu retten, so viel wie möglich Menschen auszufliegen. Aber natürlich muss man jetzt feststellen: Nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan, nach 20 Jahren Einsatz der Bundeswehr, nach Zehntausenden von Toten ist dieses Land leider nicht friedlicher geworden, nicht sicherer geworden, sondern ganz im Gegenteil - wir erleben ein Desaster. Und deswegen ist dieser Einsatz von Anfang an ein Fehler gewesen. 12,5 Milliarden Euro hat allein der Bundeswehreinsatz gekostet. Was hätte man mit dem Geld machen können, um auch die humanitäre Situation in Afghanistan zu verbessern?
Von daher: Die Linke hat immer gegen diesen Kriegseinsatz gestimmt. Und deshalb ist es auch richtig, dass jetzt aber die Bundesregierung ihrer Verantwortung nachkommen muss. Das heißt also wirklich, die Ortskräfte auszufliegen. Das hätte man machen müssen, bevor man aus Afghanistan abgezogen ist. Und das finde ich schon einen schäbigen Umgang mit den Ortskräften, dass man 65.000 Liter Bier ausfliegt, aber die Menschen, die für die Bundeswehr und für andere deutsche Institutionen gearbeitet haben, die Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen, dass man die dort im Stich lässt.
RR: Darüber sprechen wir gleich, aber - Sie sprechen über die Verantwortung, auch Verantwortung für die Welt. Das ist auch eine Frage, die unsere Zuschauer umtreibt. Hier aus Kenia:
Zuschauerfrage: Wie wollen Sie durch Ihre Führung die Welt positiv verändern?
CC: Frau Wissler, Ihre Antwort?
JW: Wir brauchen zum einen eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Das heißt, es darf nicht sein, dass die reichen Länder die Bodenschätze der ärmeren Länder ausbeuten. Wir brauchen eine faire Weltwirtschaftsordnung. Wir müssen aufhören, Waffen in alle Welt zu liefern, nicht weiter Diktatoren zu unterstützen. Sondern wir müssen ganz klar setzen auf Entwicklungszusammenarbeit, auf die Verbesserung der humanitären Situation.
Wir brauchen weltweit einen Kampf gegen Hunger. Und das halte ich für dringend notwendig. So können wir Fluchtursachen beseitigen. Da reden wir natürlich auch über die Bekämpfung des Klimawandels. Auch der wird einige Regionen natürlich unbewohnbar machen. Aber ich denke, das Entscheidende ist, dass Deutschland wirklich auf eine friedliche Außenpolitik setzt. Das heißt nicht Waffen in alle Welt exportieren, nicht aufrüsten und dann die Bundeswehr in Kriegseinsätze zu schicken, sondern eben auf zivile Lösungen zu setzen.
RR: Trotzdem geht es auch darum, welche Rolle Deutschland international spielt. Soll sich Deutschland dann komplett aus der internationalen Verantwortung zurückziehen und tatsächlich nur auf Entwicklungshilfe setzen? Das ist doch nicht die Lösung. So können Sie nicht mit Terroristen umgehen.
JW: Ja, was heißt denn aus der internationalen Verantwortung zurückziehen? Ich würde sagen, es wäre ein großer Beitrag zur internationalen Verantwortung, wenn man zum Beispiel Regime wie Saudi-Arabien bis vor kurzem, wie Katar oder Ägypten nicht mit Waffen beliefert. Das wäre doch ein Beitrag dazu, die Welt friedlicher zu machen. Natürlich wäre es eine Möglichkeit, eben auch mehr auf die wirtschaftliche Entwicklung zu setzen. Sehen Sie, in Staaten Afrikas zum Beispiel, wenn europäische Fischfangflotten die Meere vor den afrikanischen Küsten leer fischen und damit leben.
RR: Aber bleiben wir in Afghanistan. Wo liegt da jetzt die deutsche Rolle? Jetzt akut, aktuell.
JW: Ja, aktuell ist jetzt eben zum einen die Frage: Wie kann man möglichst viel Menschen evakuieren? Und dann wird sich die Frage stellen: Wie kann man zivilgesellschaftliche Projekte, die es gibt, in die ja auch Mittel der Entwicklungszusammenarbeit eingeflossen sind -
CC: Und wie würden Sie mit den Taliban dann umgehen?
JW: Wenn ich den Satz noch zu Ende sagen darf - wie man da auch Projekte weiter fortsetzen kann. Das ist natürlich die Frage. Weil natürlich ist es eben auch notwendig, jetzt nicht einfach zu sagen: Wir kürzen jetzt sofort die gesamte Entwicklungszusammenarbeit. Es geht ja natürlich auch um die Menschen dort, die zum Teil in einer ganz katastrophalen Versorgungslage sind.
RR: Deutschland hat jetzt schon die Entwicklungshilfe gekürzt bzw. gestrichen. Es sind nur ganz wenige Mittel, die noch fließen. Heißt das, Sie wären dafür, die zu erhalten?
JW: Ich denke, zumindest muss man schauen, was das für Auswirkungen hat auf die Versorgung der Zivilbevölkerung. Und ich bin dagegen, dass man jetzt komplett alles kappt. Wir sind doch jetzt in einer ganz offenen Situation. Wir wissen noch gar nicht, wie viele internationale Organisationen bleiben im Land, wie viele können weiterarbeiten. Es sieht so aus, dass die UN-Organisationen auch vor Ort -
RR: Aber Sie finanzieren jetzt die Taliban, wenn Sie es weiterbezahlen.
JW: Nein, das heißt es erst einmal nicht. Die Frage ist: Können die UN-Organisationen, die Entwicklungsorganisationen weiter im Land bleiben? Können sie dort weiter arbeiten? Ich glaube, da ist jetzt gerade sehr viel im Fluss, und das ist heute zu früh zu sagen, dass das wieder die Entwicklung sein wird. Aber ich bin dagegen, jetzt zu sagen, man stellt komplett die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit ein. Weil es geht ja um die Menschen, die jetzt unter den Taliban leiden, die aber eben auch unter der furchtbaren humanitären Situation im Land leiden. Und die Situation muss man jetzt natürlich beobachten.
RR: Viele Länder sprechen jetzt mit den Taliban: der Westen, Russland, aber auch China hat Taliban eingeladen. Bald wird sich die Frage stellen nach der Anerkennung der Taliban als Regierung. Wie positioniert sich die Linke?
JW: Deutschland spricht ja auch mit den Taliban. Die Gespräche gibt es ja. Ich würde sogar sagen, es war ein großer Fehler -
RR: Das ist aber ein Unterschied, Anerkennung der Taliban als Regierung und Gespräche.
JW: Naja, das Problem ist doch, dass faktisch die Anerkennung der Taliban schon deutlich früher stattgefunden hat. Erinnern Sie sich an die Friedensgespräche in Doha? Da haben die US-Amerikaner mit den Taliban verhandelt und zwar unter Ausschluss der afghanischen Regierung. Also das Problem ist doch gerade, dass man dort die Gespräche sogar mit den Taliban gesucht hat, aber die afghanische Regierung nicht miteinbezogen hat, im Übrigen auch andere Staaten nicht miteinbezogen hat. Von daher ist das doch längst vollzogen. Natürlich wird Deutschland jetzt auch mit den Taliban sprechen und tun sie ja bereits, wenn es um die Frage der Evakuierung geht.
Ich finde die Taliban sind eine reaktionäre, eine frauenfeindliche Gruppierung. Ich halte es für eine absolute Katastrophe, dass diese Gruppierung jetzt wieder die Macht in Afghanistan übernimmt. Ich befürchte, dass sie stärker sein werden als vor 20 Jahren, als die westlichen Truppen einmarschiert sind. Weil ich befürchte, dass sie viel von dem Kriegsgerät und von den ausgebildeten Kämpfern, die der Westen jetzt seit 20 Jahren ausgebildet und ausgerüstet hat, einfach übernommen hat. Aber natürlich sind es Realitäten. Und natürlich wird man, und das ist schon der Fall, muss man mit den Taliban reden, um so viel wie möglich Menschen zu -
CC: Sie sprechen über was, was passiert ist. Gibt es einen Plan? Haben Sie einen Plan oder denken Sie an das, was Sie machen könnten? Was würden Sie jetzt machen in der Situation?
JW: Naja, im Moment ist die Situation eben die, dass das allererste, was jetzt ansteht, eben die Hilfe ist - so viel wie möglich Menschen auszufliegen. Das heißt eben: erst retten und dann fragen. Und nicht so, wie die Bundesregierung es gemacht hat. Das war nämlich das Gegenteil. Ja, man wird an der einen oder anderen Stelle sicher mit den Taliban reden, und das macht der deutsche Botschafter ja gerade auch in Doha, mit den Taliban zu reden und zu verhandeln darüber, wie eben Ortskräfte, wie eben Menschenrechtsaktivisten auch ausgeflogen werden können.
Und dann wird man schauen, wie gesagt, welche Projekte der Entwicklungszusammenarbeit man aufrechterhalten kann. Aber dass die Taliban jetzt in Afghanistan an der Macht sind, das ist erstmal so, dass sie die Provinzen erobert haben. Vereinzelt gibt es da noch Widerstand, und ich denke, da muss man die Tage jetzt auch abwarten, welche Entwicklungen es gibt.
RR: Das heißt, Sie sind aber für die Anerkennung der Taliban als Regierung. Ursula von der Leyen hat das heute verneint.
JW: Ich halte das für viel zu früh, diese Frage zu stellen.
RR: Die Frage wird sich aber stellen.
JW: Ja natürlich wird sich die Frage stellen. Aber wie gesagt, was heißt die formale Anerkennung? Fakt ist: Der deutsche Botschafter, die deutsche Bundesregierung verhandelt mit den Taliban. Das ist nicht die Frage, ob die Linke mit denen spricht oder die anerkennt, sondern das wird ja bereits getan. Deswegen finde ich, das ist jetzt gerade eine symbolische Frage.
Jetzt muss es darum gehen, den Menschen zu helfen, die unter den Taliban leiden, die durch die Taliban vom Tode bedroht sind. Das ist jetzt die Aufgabe, und da hat die Bundesregierung wertvolle Zeit verloren. Weil man hat vor ein paar Monaten das gesamte Gerät in Afghanistan gehabt. Man hätte natürlich erst die Ortskräfte und die Menschen, die besonders gefährdet sind, ausfliegen müssen und dann erst die Soldaten abziehen müssen. Das wäre dringend notwendig gewesen.
Die Linke macht sich seit fünf Jahren dafür im Bundestag stark. Im Juni gab es eine Abstimmung dazu. Da haben nur Grüne und Linke für die Evakuierung der Ortskräfte gestimmt und alle anderen nicht zugestimmt.
CC: Lassen Sie uns reden über das, was gerade jetzt passiert. Die Strategie der Regierung ist Hilfe für die Nachbarstaaten von Afghanistan, damit Geflüchtete in der Region bleiben können. Unterstützen Sie diese Strategie?
JW: Also es ist richtig, dass Nachbarstaaten auch unterstützt werden, die Geflüchtete aufnehmen. Meine Befürchtung im Moment ist eher, dass viele Menschen aus Afghanistan im Moment gar nicht rauskommen werden. Also diese Zahlen, die Seehofer jetzt genannt hat, von bis zu 5 Millionen Flüchtlingen - ich weiß im Moment nicht, wie realistisch das ist, weil ja im Moment die Möglichkeit, wirklich aus Afghanistan zu fliehen, auch begrenzt ist.
Aber: ja, die Nachbarstaaten unterstützen. Aber das heißt eben trotzdem, Deutschland muss natürlich seiner Verantwortung nachkommen und Menschen in Deutschland aufnehmen. Ja, selbstverständlich.
CC: Wie viele Afghanen sollen in Deutschland aufgenommen werden?
JW: Ich kann keine genaue Zahl nennen. Das ist ja im Moment auch die Frage: Wie viele werden überhaupt ausgeflogen, und wie viele kommen überhaupt nach Deutschland? Aber natürlich muss Deutschland als eines der reichsten Länder der Europäischen Union, als ein Land, das dieses Desaster mit zu verantworten hat.... Also man darf ja auch nicht vergessen, dass Deutschland mitverantwortlich ist für zivile Tote. Wenn wir an das Massaker von Kundus zum Beispiel denken, wo es nicht mal Entschädigungen gegeben hat.
Natürlich ist Deutschland in der Verantwortung, Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Das heißt der Abschiebestopp, den es erst seit letzter Woche gibt. Das ist notwendig, dass niemand nach Afghanistan abgeschoben wird, dass die Menschen, die aus Afghanistan jetzt in Deutschland leben, einen sicheren Bleibestatus bekommen, damit sie auch in Sicherheit hier leben können. Und Deutschland wird natürlich Menschen aus Afghanistan aufnehmen können. Ich glaube, es ist nicht seriös, da im Moment eine Zahl zu nennen. Ich weiß auch nicht, wo Innenminister Seehofer diese Zahlen her hat.
RR: Frau Wissler, blicken wir doch ganz kurz auf diese Verantwortung. Die Lage ist weiterhin dramatisch. Die Regierung hat Fehleinschätzungen eingestanden. Sie werfen aber der Regierung Spiel auf Zeit vor. Und Sie sprechen auch von einer unterlassenen Hilfeleistung. Was meinen Sie konkret? Meinen Sie es politisch oder mit justiziablen Folgen?
JW: Ja, dass die Bundeswehr aus Afghanistan abzieht, dass die US-Truppen aus Afghanistan abziehen, ist ja lange bekannt. Und mein Eindruck ist, dass die Bundesregierung hier auf Zeit gespielt hat.
RR: Aber was fordern Sie jetzt, wenn Sie sagen, das ist unterlassene Hilfeleistung? Was fordern Sie dafür?
JW: Naja, das habe ich ja jetzt schon gesagt. Also das bedeutet, dass man jetzt so viel wie möglich Menschen ausfliegen muss. Aber ich sage, das wird sich auch jetzt an einigen Stellen nicht mehr korrigieren lassen. Für viele Menschen ist es zu spät.
RR: Heißt das, dass die Bundesregierung die Menschenleben auf dem Gewissen hat?
JW: Ich bin der Meinung, natürlich, wenn die Bundesregierung sich so viel Zeit lässt, die Ortskräfte auszufliegen, natürlich gefährdet man damit ganz direkt Menschenleben. Selbstverständlich ist das so. Man hat die Menschen dort im Stich gelassen. Das war doch lange bekannt, dass die Truppen abziehen. Und da fragt man sich auch - ich meine, der BND und andere Geheimdienste waren doch vor Ort. Und dass sich Heiko Maas, der Außenminister, noch Anfang Juli hinstellt und sagt, es ist nicht mit einer schnellen Machtübernahme der Taliban zu rechnen. Und sich hinstellt und sagt, man kann weiterhin Menschen nach Afghanistan abschieben. Ich finde wirklich, was das Auswärtige Amt dort gemacht hat, ist wirklich eine dramatische Fehleinschätzung.
RR: Fordern Sie jetzt den Rücktritt von Heiko Maas oder von der gesamten Regierung? Fordern Sie einen Untersuchungsausschuss? Was ist Ihre Forderung konkret, politisch?
JW: Also wir sind fünf Wochen vor einer Bundestagswahl. Aber ich bin schon der Meinung, dass insbesondere der Außenminister, die Verteidigungsministerin und insbesondere auch dieser Innenminister, bei dem sich die Frage aber nicht mehr stellt, sich disqualifiziert haben für solche Ministerämter. Das auf jeden Fall. Wie gesagt, wir sind jetzt fünf Wochen vor einer Bundestagswahl. Aber natürlich muss die Bundesregierung dafür die Verantwortung übernehmen.
Und ich halte es auch für eine Möglichkeit, dass ein Untersuchungsausschuss genau das aufklärt. Nämlich, wo war wirklich zwischen den Ministerien, wo ja jetzt auch einer die Schuld auf den anderen schiebt.... also Horst Seehofer als Innenminister, der sich damals noch gefreut hat - 69 Afghanen werden an seinem 69. Geburtstag abgeschoben - der schiebt jetzt die Schuld auf Heiko Maas. Heiko Maas sagt Nein, das war das Innenministerium. Die Verteidigungsministerin steht irgendwie dahinter.
Also das ist doch unwürdig was die Bundesregierung macht. Klar ist: die Bundesregierung in ihrer Gänze, und damit meine ich auch die Kanzlerin, auch den Vizekanzler, die tragen alle die Verantwortung dafür. Selbstverständlich. Und die Bundesregierung hat mit diesem Agieren Menschenleben gefährdet.
Und meine Befürchtung ist, dass man das deshalb gemacht hat, weil man sich irgendwie über die Wahlen retten wollte. Man wollte vor der Bundestagswahl keine Debatte über Migration in Deutschland. Und damit hat man Menschenleben gefährdet. Das ist meine Befürchtung. Und dafür trägt diese gesamte Bundesregierung die Verantwortung, und ganz besonders natürlich die drei Genannten.
CC: Rücktritt der gesamten Bundesregierung, das ist die Forderung jetzt?
JW: Nein. Wie gesagt, wir sind fünf Wochen vor einer Bundestagswahl. Ein Rücktritt einer Bundesregierung hätte ja jetzt konkret... Ich sage die Menschen, die diese Entscheidungen getroffen haben, beziehungsweise die Entscheidungen nicht getroffen haben und durch aufwändigste Visaverfahren eben Menschen ihrem Schicksal überlassen haben, beziehungsweise den Taliban, die haben sich disqualifiziert für politische Ämter.
RR: Frau Wissler, am Mittwoch wird die Bundeskanzlerin die Regierungserklärung dazu abgeben. Am Mittwoch wird aber auch der Bundestag über die Nachmandatierung der Evakuierungsaktion abstimmen. Stimmt die Linke dagegen? Sie haben bisher bei allen Auslandseinsätzen so abgestimmt.
JW: Wir werden uns jetzt den Beschlusstext für das Mandat genau anschauen. Wir werden das diskutieren. Dazu gibt es eine Parteivorstandssitzung und eine Fraktionssitzung, wo wir das diskutieren werden. Also das genaue Abstimmungsverhalten –
RR: Was ist da zu diskutieren? Also da werden Menschen aus dem Land geschafft. Sie sagen selber, man muss sie jetzt aus dem Land schaffen, man muss sie retten. Das ist eine Rettungsaktion. Was ist da zu diskutieren? Warum könnte die Linke sagen: wir unterstützen das nicht?
JW: Nein, natürlich muss man sich sehr genau anschauen, was in diesem Beschluss drinsteht. Zum Beispiel das Wort Ortskräfte steht da nicht einmal drin. Und deswegen, unsere Position ist ganz klar: Wir wollen, dass so viel -
RR: Es ist beschrieben. Die Ortskräfte sind beschrieben.
JW: Das Wort Ortskräfte kommt im Beschlusstext nicht vor.
RR: Es ist aber klar, dass es um die Hilfskräfte da vor Ort geht.
JW: Wir diskutieren jetzt. Vollkommen klar ist, und das habe ich ja auch inhaltlich deutlich gemacht: wir wollen, dass so viel wie möglich Menschen ausgeflogen werden. Also wir halten es für richtig, dass ausgeflogen wird. Wir kritisieren das Wie. Weil viel zu wenig Menschen ausgeflogen werden, weil Menschen im Stich gelassen werden, die nicht auf irgendwelchen Listen stehen.
RR: Also es kann sein, dass die Linke dagegen stimmt?
JW: Wir diskutieren das. Wir lehnen diesen Einsatz nicht ab. Wir sind nicht gegen diesen Einsatz. Wir haben den Afghanistan-Einsatz immer abgelehnt, weil es da um Krieg und Besatzung ging. Wie gesagt, wir gucken uns den Beschlusstext genau an. In der Sache sind wir dafür, die Menschen auszufliegen. Wir kritisieren die Art und Weise, wie die Bundesregierung das macht, weil sie viel zu wenig rausholt. Und das ist eine Kritik daran.
RR: Also Prinzipienreiterei?
JW: Nein, das hat mit Prinzipienreiterei überhaupt nichts zu tun. Überhaupt nichts. Also ich finde wirklich, wenn eine Partei hier im Deutschen Bundestag eine deutliche Position in all den Jahren vertreten hat: Wir haben uns vor Jahren für die Ortskräfte stark gemacht. Wir haben im Juni beantragt: „Holt die Ortskräfte aus Afghanistan." Dagegen gestimmt hat die Große Koalition. Die FDP hat auch nicht zugestimmt.
Also wenn es hier eine Partei gibt, die wirklich glaubhaft sich immer für die Menschen aus Afghanistan eingesetzt hat- seit Jahren kämpfen wir gegen Abschiebungen nach Afghanistan. Seit Jahren setzen wir uns für einen Abschiebestopp ein.
Also ich glaube wirklich, dass wir absolut glaubwürdig sind, wenn es darum geht, Menschenleben aus Afghanistan und anderswo zu retten. Da muss die Linke glaube ich sich ganz sicher mit ihrer Position nicht verstecken. Wir gucken uns den Mandatsbeschluss genau an und dann werden wir es entscheiden. Richtig ist, dass die Menschen jetzt rausgeholt werden. Wir haben Kritik daran, wie die Bundesregierung es macht.
CC: Vielen Dank für diese Antwort. Ich denke, wir sollten jetzt zum Thema Russland wechseln, weil Bundeskanzlerin Merkel am Freitag in Moskau war. Dazu haben wir eine Frage aus Moskau, und jetzt werden wir sie angucken.
Zuschauerfrage: Haben Sie ein Treffen mit Wladimir Putin vor? Und welche Fragen wollen Sie direkt mit ihm diskutieren?
CC: Frau Wissler, was wäre Ihre erste Frage an Putin?
JW: Also ich habe kein Treffen mit Wladimir Putin geplant. Aber wenn ich mit ihm sprechen würde, dann würde ich natürlich mit ihm über die Situation der Opposition in Russland sprechen. Über die Frage von Menschenrechten würde ich mit ihm sprechen. Und ansonsten bin ich der Meinung, dass Deutschland eine Politik der Entspannung machen, also eine Politik der Deeskalation und der Entspannung betreiben sollte. Es darf keine militärische Eskalation mit Russland geben, bei aller Kritik an der russischen Regierung. Und das würde ich in so einem Gespräch deutlich machen.
RR: Frau Wissler, wer wäre Ihnen eigentlich als russischer Präsident lieber: Wladimir Putin oder Alexej Nawalny?
JW: Also ich habe die Hoffnung... es gibt ja in Russland auch noch deutlich fortschrittlichere Kräfte als beide. Also von daher, Alexej Nawalny hat natürlich meine Solidarität, wenn er verfolgt wird, gerade von der russischen Regierung, wenn er im Gefängnis sitzt und wenn ihm Unrecht angetan wird. Aber trotzdem ist Nawalny niemand, zu dem ich jetzt politisch Sympathien hätte, der jetzt politisch uns oder mir nahestehen würde.
RR: Warum?
JW: Ja, weil er sich zum Teil doch sehr rechtsaußen geäußert hat. Weil es schon Äußerungen von ihm gibt, die ich für äußerst schwierig halte.
CC: Haben Sie ein Beispiel von seinen Aussagen, oder was er gesagt hat, wo Sie denken, das ist total komisch?
JW: Ja, es gab ja schon Zitate gegenüber Muslimen beispielsweise, wo er sich doch in sehr problematischer Art und Weise geäußert hat. Aber ich glaube, die Frage ist ein bisschen unterkomplex gestellt - wollen Sie Putin oder Nawalny? Also das ist, finde ich, auch keine Frage, die man einfach so - ich muss mich nicht zwischen diesen beiden entscheiden. Ich bin der Meinung, dass man die Rechte der Opposition in Russland nicht beschneiden darf, dass man die Opposition in Russland nicht unterdrücken darf. Ich habe keine Sympathien mit Putin, aber Nawalny ist für mich jetzt einfach nicht die politische Alternative dazu.
RR: Warum haben Sie keine Sympathien mit Putin? Ihre Partei ist eigentlich verrufen als die Partei der Putin-Freunde. Was haben Sie eigentlich gemeinsam?
JW: Sie sagen das so, dass wir so verrufen sind. Es ist ein großer Unterschied, ob man mit jemandem Sympathien hat oder ob man der Meinung ist, dass man nicht eine militärische Eskalation gegen ein Land voranbringen sollte. Das ist ein großer Unterschied. Also, ich hatte auch keinerlei Sympathien mit Milosevic und hielt den Krieg gegen Serbien für falsch. Das ist ein Unterschied. Ich bin der Meinung, wir brauchen eine Abrüstungspolitik, eine Politik der Entspannung. Ich halte sowas wie das Defender 2020/2021 Manöver, das ist ja die NATO, das ist ja eines der größten Manöver überhaupt in den letzten Jahrzehnten, das stattfindet, unter anderem auf deutschem Boden, wo hier tausende von Soldaten ja quasi den Ernstfall, den Krieg gegen den Osten –
RR: Aber die NATO unterstützt nicht die Separatisten in der Ostukraine. Die NATO hat auch die Krim nicht annektiert, sondern Putin und Russland.
JW: Kritisiere ich ja auch alles, kritisiere ich auch alles. Aber wo bringt es uns dem Frieden näher, wenn die NATO jetzt Manöver macht und den Ernstfall, den Krieg gegen Russland probt? Wir glauben doch alle nicht, dass wir die Situation eines Konflikts mit Russland militärisch lösen können. Um Gottes Willen. Wir haben es hier mit Atommächten zu tun. Und wir können doch keine militärische Eskalation dieses Konflikts. Und es hat überhaupt nichts mit Sympathien zu tun, sondern es hat etwas damit zu tun, dass es keine Kriegsgefahr geben darf und man weiter kommt mit Diplomatie, mit Gesprächen. Aber doch nicht damit, dass man jetzt hier militärische Übungen macht und Aufmärsche probt. Und das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich die Annexion der Krim kritisiere.
CC: Am Sonntag fährt Angela Merkel in die Ukraine. Es gibt immer noch diesen Konflikt auf der Krim und auch in der Ostukraine. Was wäre denn die Lösung? Was würden Sie tun, wenn sie mitregierten?
JW: Ich denke, dass es notwendig ist, auch zu kritisieren, was auch in der Vergangenheit passiert ist. Und da geht es eben einmal um die Frage: Was hat Russland getan? Aber auch: Was hat die NATO getan? Ich halte die NATO-Osterweiterung für einen Fehler. Ich denke, das war falsch, dass die NATO sich immer weiter nach Osten erweitert hat. Es wäre richtiger gewesen, nach der Auflösung des Warschauer Pakts und nach dem Ende des Kalten Krieges insgesamt zu schauen: Können wir nicht eine andere internationale Sicherheitsarchitektur hinbekommen, die eben auch Russland mit einschließt? Das wäre sinnvoller gewesen.
RR: Frau Wissler, es gab die Zwei-plus-Vier-Verträge, und in diesem Vertrag wurde auch Deutschland wiedervereinigt und Ostdeutschland trat der NATO bei. Russland bzw. damals die Sowjetunion hat dem zugestimmt. Wie wollen Sie dann die osteuropäischen Länder...?
JW: Naja, die NATO-Osterweiterung kam ja ein bisschen später als der Beitritt Deutschlands zur NATO.
RR: Ja, aber in Osteuropa nennt man das imperiales Denken. Wie wollen Sie Ländern wie Polen und dem Baltikum erklären, dass Sie es nicht dürfen als unabhängige Länder, dass Russland und andere Länder darüber bestimmen dürfen?
JW: Ich habe ja gerade gesagt, es wäre notwendig gewesen, nach 1990 oder 1992 eine komplett neue Sicherheitsarchitektur zu haben. Das heißt wirklich ein Sicherheitsbündnis unter Einschluss Russlands, wo man eben genau diese Blockkonfrontation aufgelöst hätte. Der Warschauer Pakt wurde aufgelöst. Gut so. Aber man hätte auch die NATO als solches, als Nordatlantikpakt auflösen müssen, um wirklich zu einer nicht eskalierenden, sondern gemeinsam auf Kooperation setzenden Sicherheitsarchitektur zu kommen. Das wäre richtig gewesen. Aber ich glaube, dass es uns dem Frieden kein bisschen weiterbringt, wenn wir jetzt durch so gefährliches Säbelrasseln hier aufrüsten und Militärmanöver anstoßen.
RR: Frau Wissler, wir stehen kurz vor der Bundestagswahl. Sie haben Maximalforderungen. Sie waren immer in der Opposition. Vielleicht kommen Sie jetzt in eine Position, wo Sie tatsächlich in eine Koalition kommen würden. Würden Sie bei einer der auslandspolitischen Maximalforderungen auch zurückstecken?
JW: Was heißt denn hier Maximalforderungen?
RR: Sie wollen die NATO auflösen. Sie wollen auch keine Auslandseinsätze. Bleiben Sie bei allen diesen Punkten dabei?
JW: Also ich sage jetzt mal wirklich nach dem Desaster, was wir gerade erleben in Afghanistan, finde ich, gibt es eine Partei, die jetzt relativ wenig Grund hat, ihre außenpolitischen Positionen zu überdenken. Und das ist die Partei Die Linke. Also ich meine, wir sind nicht für dieses Desaster verantwortlich. Und wir sind ja nicht der Meinung, dass man sich international aus allem heraushält. Wir sind der Meinung, dass Krieg, dass Waffen, dass Militär nicht zu mehr Frieden und Menschenrechten und Demokratie beiträgt. Sondern wir sind der Meinung, dass wir auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung setzen müssen, dass wir den Hunger in der Welt bekämpfen müssen und dass man nicht Diktatoren unterstützen darf. Und das ist ja auch das Problem, dass in Teilen Diktatoren durch Waffenlieferungen unterstützt werden, solange sie genehm sind. Und das ist unser Ansatz.
CC: Lassen Sie uns auf eine andere Krise schauen, die eigentlich die ganze Welt beschäftigt. Und das ist die Corona-Pandemie. Dazu haben wir eine Frage aus den USA.
Zuschauerfrage: Wie wollen Sie mit den wirtschaftlichen Schäden der Pandemie umgehen? Und wie wollen sie Ländern dabei helfen, denen es nicht so gut geht wie Deutschland?
JW: Also, das erste ist, um die wirtschaftlichen Schäden zu beseitigen, schlagen wir eine Vermögensabgabe vor. Das trifft 0,7 Prozent der deutschen Bevölkerung, die eine einmalige Vermögensabgabe machen würden, damit man eben auch hier höhere Einnahmen hat. Es sind ja in der Krise nicht alle ärmer geworden. Es gibt ja auch ein paar, die deutlich reicher geworden sind. Deswegen brauchen wir dringend Umverteilung. Und das zweite ist, dass wir eine weltweite Impfstrategie brauchen. Es darf nicht sein, dass die reichen Länder ihre Bevölkerung durchimpfen können und dass viele ärmere Länder eben von den Impfstoffen praktisch abgeschnitten sind. Wir haben im ganzen afrikanischen Kontinent eine Impfquote von 1,6 Prozent. Das ist viel zu wenig. Und deswegen ist es notwendig, eine globale Impfstrategie zu haben. Und da brauchen wir auch die Solidarität der reichen Staaten. Das ist eine Frage von Solidarität, das ist aber auch eine Frage von Eigennutz. Weil wenn wir die Pandemie nicht weltweit in den Griff bekommen, dann kommt sie in Form von Mutanten zurück.
RR: Vielen Dank! Das war Janine Wissler, Spitzenkandidatin der Linken.
CC: Danke schön.
JW: Ich danke Ihnen.