Lion Feuchtwanger: "Die Geschwister Oppermann"
6. Oktober 2018Berlin, Anfang November 1932. Gustav Oppermann erwacht an seinem fünfzigsten Geburtstag und wundert sich, warum er so schlecht aufgelegt ist.
"Sind diese fünfzig Jahre nicht gute Jahre gewesen? Da liegt er, Besitzer eines schönen, seinem Geschmack angepassten Hauses, eines stattlichen Bankkontos, eines hochwertigen Geschäftsanteils, Liebhaber und geschätzter Kenner von Büchern, Inhaber des Goldenen Sportabzeichens. Seine beiden Brüder und seine Schwester mögen ihn, er hat einen Freund, dem er vertrauen kann, zahllose erfreuliche Bekannte, Frauen, soviel er will, eine liebenswerte Freundin."
Es ist ein reiches Leben, auf dem kein Schatten zu liegen scheint. Doch außerhalb der wohlhabenden Sphäre der Oppermanns sind die Zeiten schlecht. Es gibt sechs Millionen Arbeitslose im Deutschen Reich, und seit die nationalsozialistische NSDAP aus der letzten Reichstagswahl als stärkste Partei hervorging, steht die Demokratie der Weimarer Republik unter faschistischem Beschuss.
Die Folgen der Machtergreifung
Als Lion Feuchtwangers Zeitroman aus dem Jahr 1933 im Amsterdamer Querido-Verlag veröffentlicht wurde, lebte der Autor längst als Emigrant im französischen Exil in Sanary-sur-Mer.
Mit der Arbeit an seinem Roman hatte der jüdische Erfolgsschriftsteller im April 1933 begonnen, als unmittelbare Reaktion auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Übertragung der Regierungsgewalt auf den neuen Reichskanzler Adolf Hitler. Seine Recherche hatte Feuchtwanger ursprünglich für einen antifaschistischen Film begonnen, für den er gemeinsam mit dem englischen Drehbuchautor Sidney Gilliatals das Skript schreiben sollte. Der Film kam nie zustande.
Feuchtwangers Roman spielt in der Zeit zwischen November 1932 und Spätsommer 1933. Die jüdische Familie der Oppermanns sieht sich zunehmend mit den Konsequenzen der Machtübernahme durch die Nazis konfrontiert. Gustavs Bruder Martin, der das große Möbelhaus leitet, das das Familieneinkommen sichert, sieht sich zur Fusion mit einem missliebigen arisch-deutschen Partner gezwungen.
Der andere Bruder, Edgar, bis dahin hochangesehener Arzt des Städtischen Krankenhauses, wird verleumdet und schließlich von SA-Leuten aus der Klinik gejagt. Berthold Oppermann, der 17-jährige Sohn Martins, einst ein aufgeweckter Schüler und herausragender Fußballspieler, wird von einem nationalsozialistischen Lehrer drangsaliert. Ehe er sich in einem Aufsatz vor Hitler und dessen Hetzschrift "Mein Kampf" verbeugt, bringt sich der Jugendliche um.
Der Zusammenbruch der bürgerlichen Kultur
Das Unfassbare ist eingetreten: Die Nazis haben ihr Regime mit Hilfe von Gewalt und Hetz-Kampagnen errichtet. Die Oppermanns verlieren ihre Heimat. Während viele befreundete Deutsche, darunter auch Juden, noch glauben, nur weil man einem populären Wirrkopf ein repräsentatives Amt gegeben habe, sei Deutschland noch lange nicht am Ende, müssen die Oppermanns Berlin verlassen - ihre Häuser, ihren Besitz und ihre Freunde. Und das nur, weil sie jüdischer Abstammung sind.
Lion Feuchtwanger schildert die Auswüchse des Antisemitismus, die zunehmenden Repressalien und die Konzentrationslager. Der Schriftsteller Gustav erkennt in der Emigration immer klarer, wie wichtig es wäre, den Deutschen die Augen zu öffnen, und sie zu zwingen, die Verbrechen des NS-Regimes zur Kenntnis zu nehmen.
"Da lernte man lügen in Deutschland. Viele rühmten laut die Völkischen, aber heimlich verfluchten sie sie. Ihr Kleid trug die braune Farbe der Völkischen, ihr Herz die rote der Gegner: Beefsteaks nannten sie sich. Die Partei der Beefsteaks war größer als die des Führers. Aber ihre Stimmen drangen nicht ins Ausland, und die Stimme des Auslands drang nicht zu ihnen."
Hellsichtige Aufklärung
Gustav entschließt sich zur politischen Aktion, kehrt im Sommer 1933 mit einem falschen Paß aus dem Exil nach Deutschland zurück, um die Untaten der Nazis zu dokumentieren. Er wird verhaftet und stirbt kurz nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager an den Folgen der Misshandlungen.
Feuchtwangers Zeitgenosse Klaus Mann (1906 – 1949, "Mephisto"), der selbst ins Exil gehen musste, lobte den Roman "Die Geschwister Oppermann" als "die wirkungsvollste, meistgelesene erzählerische Darstellung der deutschen Kalamität".
Hellsichtig führte Feuchtwanger der Welt schon früh vor, was für ein Schreckensregime seit den Wahlen vom 30. Januar 1933 in Deutschland herrschte. Er hat sein aufklärerisches Werk bereits im Sommer 1933 als aktuellen Roman geschrieben. Heute liest sich das Buch als literarisches Zeugnis des Untergangs einer humanistischen Kultur.
Lion Feuchtwanger: "Die Geschwister Oppermann" (1933). Die beiden ersten Auflagen des Romans erscheinen 1933 und '34 im Amsterdamer Querido-Verlag unter dem Titel "Die Geschwister Oppenheim". Feuchtwanger musste diesen Titel abändern, nachdem ein deutscher Nationalsozialist namens Oppenheim gerichtlich eine Namensänderung erzwungen hatte. Heute ist der Roman im Aufbau Verlag erhältlich.
Lion Feuchtwanger (1884 – 1958), in München geboren, wuchs in einer jüdischen Familie auf, die sich der deutschen Kultur stark verbunden fühlte, aber auch die religiösen Riten und den Umgang mit jüdischer Kultur und Geschichte pflegte. Das selbstbewusste Leben von Juden war immer wesentlicher Bestandteil seines Werkes. Während einer Vortragsreise durch die USA wurde er von der Machtergreifung der Nationalsozialisten überrascht. Feuchtwangers Romane "Der tönerne Gott" (1910), "Jud Süß" (1921/22) und "Die hässliche Herzogin" (1923) fielen am 10. Mai 1933 der von den NS-Schergen groß inszenierten Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz und in 21 anderen deutschen Städten zum Opfer. Sein Haus und Vermögen wurden konfisziert. Er flüchtete nach Frankreich, wurde dort jedoch 1940 interniert. Feuchtwanger konnte in die USA fliehen, wo er bis zu seinem Tod 1958 in Los Angeles lebte.