Literarische Welten
27. Dezember 2012Früher reiste man nach Italien. Schriftsteller, Maler und Wissenschaftler zurückliegender Jahrhunderte machten sich zumindest einmal in ihrem Leben auf, um das Land ihrer Sehnsucht zu erkunden. Italien - das war für Goethe, Richard Wagner und andere, für Schriftsteller, Komponisten und Maler, der Ort, an dem man auf vieles zu stoßen hoffte: auf Geschichte und Mythen, auf bizarre Landschaften und historische Gebäude. "Grand Tour" hieß das im 16. bis zum 18. Jahrhundert unter den Adeligen Europas. Aber auch eben jene Künstler reisten gen Süden, um Neues zu entdecken und das eigene Wissen zu erweitern.
Reisen zu tieferen Erkenntnissen
Für die Schriftsteller ging es damals vor allem um eines: um Erkenntnisgewinn. Gesucht wurde nach einer Wahrheit über die reine Wissensvermittlung hinaus. Es ging um eine Erweiterung des Bewusstseins. Lange vor Sigmund Freud beschäftigte man sich mit den tieferen Schichten des Bewusstseins. Heute, in Zeiten der Globalisierung und des Internets, in Zeiten, die es einem ermöglichen, die Metropolen der Kontinente innerhalb weniger Stunden zu erreichen, fährt man weiter als nur nach Italien. Viele deutsche Schriftsteller reisen heute, um in weit ferneren Gegenden zu tieferen Erkenntnissen zu gelangen.
Christian Kracht, einst als Pop-Literat etikettiert, hat lange in Nepal gelebt. Er bestieg den Kilimandscharo. Sein voriges Buch handelt von einem deutschen Aussteiger, der auf einem kleinen Archipel im Südpazifik eine utopische Republik errichten wollte. Kracht lebt heute unter anderem in Afrika. Dort wuchs auch der deutsche Schriftsteller Ilija Trojanow auf. Trojanow ist bulgarischer Abstammung und gibt die Buchreihe "Weltlese. Lesereisen ins Unbekannte" heraus. Seinen größten Erfolg hatte er vor ein paar Jahren mit einem Roman über einen britischen Kolonialbeamten und Abenteurer, der im 19. Jahrhundert in Asien wirkte: "Der Weltensammler".
Erste Reise ins ewige Eis
Auch Raoul Schrott, der in mehreren Ländern studierte, wurde mit Anthologien, Dramen und Reiseprosa bekannt, die sich mit alten und scheinbar exotischen Sprachräumen beschäftigen. Berühmt wurde er mit einer Neuübersetzung von Homers Ilias. Der gebürtige Österreicher Christoph Ransmayr schließlich schrieb seinen ersten Roman über die Arktis-Expedition eines ungarisch-österreichischen Expeditionsteams im vorletzten Jahrhundert: "Die Schrecken des Eises und der Finsternis". Ransmayrs Buch "Die letzte Welt" wandte sich dann 1988 dem Leben Ovids zu, ein Text, der Zeiten und Orte geradezu traumwandlerisch vermischte. Der Roman war ein Bestseller, erlaubte es Ransmayr als freier Schriftsteller zu leben und reisend die Welt zu erkunden.
Sein neues Buch nun könnte man als Zusammenfassung all dieser Bestrebungen, in der Ferne zum Wesen der Dinge vorzustoßen, bezeichnen. "Atlas eines ängstlichen Mannes" lautet der Titel des Textes, der aus 70 kurzen Episoden besteht, in dem sich der Autor der Orte erinnert, die er in den vergangenen Jahrzehnten für sich entdeckt hat. Es sind keine Reisebeschreibungen im üblichen Sinne. Kein touristischer Exotismus wird hier betrieben, keine feinfühlige Reiseprosa ist hier zu finden. "Ich sah…" - mit dieser Formel beginnt jeder der 70 Texte, und was dann jeweils folgt, hat ein Kritiker folgendermaßen umschrieben: "Hier setzt sich einer auf jede Gefahr hin der Welt aus und verdichtet seine Wahrnehmung zu poetischen Bildern von zeitloser Kraft und Schönheit."
Geschichte und Alltag
Ob in Laos, im brasilianischen Tropenwald, in nordamerikanischer Einsamkeit, in Russland, Mauritius oder auch in seiner österreichischen Heimat - stets geht es Ransmayr um mehr als nur die Beschreibung von Natur und Mensch. Es ist eine seltsam zeitenthobene Prosa, die gleichzeitig den Atem der Geschichte spüren lässt wie die Skurrilitäten des Alltags aufzeichnet. Es sei ausschließlich von Orten die Rede, an denen er gelebt, die er bereist oder durchwandert habe, schreibt Ransmayr. Die Texte handelten "ausschließlich von Menschen, denen ich begegnet bin, Menschen, die mir geholfen haben, die mich behütet, bedroht, gerettet oder geliebt haben."
Ransmayr ist auf der Suche. Nach dem Kern der Welt, nach dem Wesen der Dinge. Vor allem aber auf der Suche nach den Eigenarten der Menschen an dem Ort, an dem sie leben. Wie fühlen diese Menschen in anderen, uns so fernen Kulturen? Wie in der Einsamkeit? Wie gehen sie um mit Stille und der Öde der Natur, wie stellen sie sich den Härten des Lebens? Ransmayr fragt und kommt stets zu Antworten, die ein letztes Rätsel übrig behalten. Es sind keine Antworten, die sich in Reisemagazinen oder in traditioneller Reiseliteratur finden würden. Man merkt dem Autor und seinen Texten an, dass nicht ausschließlich die Erfahrung der Reise zum Ausgangspunkt der Prosa wurde. "Oft waren meine Reiseziele auch durch die Lektüre bestimmt, etwa durch Stevenson und Melville", sagt der Schriftsteller über seine Motivation zu schreiben.
Literarische Vorbilder
Robert Louis Stevenson und Hermann Melville, Giganten der Literatur, die bleibende Werke wie "Die Schatzinsel" oder "Moby Dick" geschrieben haben, sind gute Beispiele für eine Literatur, die in ferne Weltgegenden schaut, abgelegne Orte besucht und doch nur eines sucht: den Menschen und das, was man als "Seele" bezeichnen könnte. Die literarische Figur des Käpt'n Ahab, der in "Moby Dick" halb irre, von Wahnsinn getrieben den weißen Wal zur Strecke bringen will, war in erster Linie nicht ein schnöder Walfänger, sondern ein an der Welt Verzweifelnder, der versuchte zu ergründen, was ihn im Inneren zusammenhält. Ransmayr ist ein später Nachfolger Herman Melvilles. Auch er ist in fernen Gegenden auf der Suche nach dem weißen Wal der Erkenntnis.
Christoph Ransmayr: "Atlas eines ängstlichen Mannes", Fischer Verlag 2012, 456 Seiten, ISBN 978-3-10-062951-7.