Fünf Bücher für literarische Sinnsucher
11. Dezember 2016Drei Romane und zwei Bücher, die sich auf die Spuren verstorbener Dichter begeben, drei englischsprachige, zwei deutsche Autoren - so sieht unsere kleine literarische Reise am dritten Advent aus. Jedes gute Buch beinhaltet ein Stück Lebensweisheit. Die Kunst guter Literatur besteht jedoch darin, diese Suche nach dem Sinn des Lebens nicht schulmeisterlich und mit erhobenem Zeigefinger daherkommen zu lassen.
Günter de Bruyn: Sünder und Heiliger: Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner
"Ihr Lebenswerk ist eine große Gabe an die Kulturnation Deutschland", so gratulierte keine Geringere als Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Schriftsteller Günter de Bruyn zu seinem 80. Geburtstag. De Bruyn ist vor Kurzem, am 1. November, 90 Jahre alt geworden - und schreibt noch immer sehr lesenswerte Bücher über die Kulturnation Deutschland. Sein Allerneuestes blickt auf eine der bekanntesten Epochen deutscher Literaturgeschichte: die Klassik und Romantik. Und erweckt doch einen völlig vergessenen Dichter wieder zum Leben: Zacharias Werner (1768 - 1823). Es ist nun nicht so, dass man Werners Theaterstücke, Hymnen und Gedichte heute unbedingt wieder lesen müsste. De Bruyns Buch geht es um etwas Anderes, um ein Stück deutsche Kulturgeschichte - und um einen zwischen Idealismus, romantischen Weltvorstellungen, einem ausgeprägten Sexualtrieb und der Hingabe zum katholischen Glauben zerrissenen Charakter. Woran kann und soll man sich in unsicheren Zeiten orientieren und festhalten? Eine Frage, die nicht nur vor über 200 Jahren viele Menschen beschäftigte!
Günter de Bruyn: Sünder und Heiliger: Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner, S. Fischer, 224 Seiten, ISBN-13: 978-3103972085
Geoff Dyer: Aus schierer Wut
Auch der britische Journalist und Schriftsteller Geoff Dyer hat sich auf die Spuren eines Dichters begeben. D. H. Lawrence (1885 - 1930), Autor des legendären Romans "Lady Chatterley's Lover", hat es ihm angetan und Dyers ganzer Lebenssinn bestand vor ein paar Jahren darin, diesem Dichter ein Denkmal zwischen zwei Buchdeckeln zu setzen. Doch wie anfangen? Dyer scheitert: Keine Biografie, kein Sachbuch, kein Dichter-Roman will ihm gelingen. Da nützen alle Reisen nichts, nach Rom und Sizilien, auf die griechische Insel Alonnisos und in die Vereinigten Staaten, all die Orte, an denen sich Lawrence einst aufgehalten hatte. Wir, die Leser, begleiten Geoff Dyer auf diesen Reisen und folgen ihm bei seinen verschlungenen Gedankengängen und seinen körperlichen Malaisen. Einmal zwickt ihn das Knie und er schreibt: "Mein Knie ist nicht das Problem, soviel ist sicher: Es ist ein Symptom dieser umfassenden Krankheit, dieser Unfähigkeit, an irgendetwas dranzubleiben, diesem Rheumatismus des Willens, dieser chronischen Unfähigkeit, irgendetwas zu Ende zu bringen." "Aus schierer Wut" ist ein Buch über Schreibblockaden und die Angst vor der weißen Seite: witzig und erhellend, geistreich und abschweifend. Ein kluges, hintergründiges Buch.
Geoff Dyer: Aus schierer Wut, DuMont, übersetzt von Stephan Kleiner, 304 Seiten, ISBN-13: 978-3832198442
Ian McEwan: Nussschale
In die Spur des Lebens gefunden hat der Protagonist in Ian McEwans neuem Roman "Nussschale" noch nicht. Im Gegenteil. Es ist ein ungeborener Fötus, der hier erzählt. Der englische Autor bleibt dabei ganz konsequent. Ein phantastisches Erzählexperiment. Das ungeborene Kind blickt in die Welt - und beobachtet Papa, Mama und den Onkel und teilt dem erstaunten Leser brühwarm mit, wie es so zugeht in der Welt da draußen. Und da tut sich einiges. Mama lebt inzwischen mit dem Onkel zusammen, Vati hat das Nachsehen. Und nicht nur das. Es werden Mordpläne geschmiedet. Ian McEwan ist ein Meister der psychologischen Weltsicht, selbst aus der ungewöhnlichen Perspektive packt er den Leser. Atemlos verfolgt der das Geschehen und wer mag, kann sich auch noch am literarischen Vexierspiel erfreuen, "Nussschale" ist eine Variation auf Shakespeares "Hamlet". Doch auch ohne diesen doppelten Boden funktioniert der Roman. Meisterlich, abgründig, tiefschwarz!
Ian McEwan: Nussschale, Diogenes, übersetzt von Bernhard Robben, 288 Seiten, ISBN-13: 978-3257069822
Lily King: Vater des Regens
Um die Beziehungen des in diesem Falle allerdings schon geborenen Kindes zu Mutter und Vater geht es auch der amerikanischen Schriftstellerin Lily King. "Vater des Regens" ist ein Roman über eines der Top-Themen dieses Bücherherbstes: Das schwierige Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern. Aus der Perspektive der zu Beginn der Erzählung elfjährigen Daley Amory erzählt King von den Mühen des Erwachsenwerdens. Daleys Eltern trennen sich und das ist der Knackpunkt in ihrem Leben. Und, wie sich später herausstellen wird, auch der im Leben ihres Vaters: "Weißt Du, was der traurigste Tag meines Lebens war?" fragt dieser die inzwischen erwachsende Tochter und reicht die Antwort gleich nach: "Das war der, an dem mich deine Mutter verlassen hat." Der Vater beginnt zu trinken und Daley versucht auf die Beine zu kommen. "Vater des Regens" beginnt Mitte der 1970er Jahre, Richard Nixon ist gerade zurückgetreten, und endet 2008, Barack Obama setzt sich gegen Hillary Clinton durch. Doch diese politischen Eckpunkte markieren nur das grobe zeithistorische Gerüst, der Roman ist vor allem ein fein gesponnenes Psychogramm einer jungen Frau im Amerika der Gegenwart.
Lily King: Vater des Regens, Beck, übersetzt von Sabine Roth, 400 Seiten, ISBN-13: 978-3406698057
Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder
Und noch ein Buch über einen großen Dichter. Dante ist in diesem Fall gemeint. Ob es sich um einen Roman handelt bei Sibylle Lewitscharoffs "Das Pfingstwunder", darüber lässt sich trefflich streiten. Zwar gibt es eine echte Handlung, in der wir Leser von einem Dante-Kongress in Rom erfahren, der mit der Himmelfahrt fast aller Teilnehmer endet, doch gleicht das Buch eher einem erzählerischen Sachbuch zum Thema "Göttliche Komödie" als einem konventionellen Roman. Einer aus der Runde der Forscher bleibt am Ende auf der Erde und von ihm erfahren wir auch, was vorgefallen ist in Rom. Dieser Gottlieb Elsheimer, der die Geschichte referiert und dabei vor allem sein Dante-Wissen ausbreitet, ist ein schrulliger, inzwischen leicht heruntergekommener und arg frustrierter Geselle, der in Frankfurt wohnt. Unerhört gelehrig ist er aber auf jeden Fall, wie seine Erfinderin auch, die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, auf die man in manchen (autobiografischen) Sentenzen seiner philosophischen Ergüsse stößt. "Das Pfingstwunder" ist ein Buch für Dante-Kenner und Liebhaber. Und bei dem italienischen Dichter ging es ja bekanntlich immer wieder um nichts weniger als um den Sinn des Lebens.
Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder, Suhrkamp, 350 Seiten, ISBN-13: 978-3518425466