Literatur und Weltkrieg: "Tobys Zimmer"
22. April 2014"Eintausend junge Männer mit ausgehöhlten Augen, weggesprengten Kiefern und klaffenden Löchern, wo ihre Nasen einst waren, hier auf engstem Raum, um zusammengeflickt und mit dem, was die Chirurgen an Gesicht zustande gebracht hatten, entlassen zu werden." Pat Barker blickt direkt ins Innere des Grauens. Die Verletzungen, die die Soldaten auf den europäischen Schlachtfeldern erlitten, waren fürchterlich. Und doch blickt Barker nicht weg. Dabei verzichtet ihr Roman "Tobys Zimmer" fast vollkommen auf die Schilderungen von Schlachtszenen. Sie beschäftigt sich mit den Nachwirkungen. Und die sind ebenso verstörend.
Ein Roman über den Verlust
Toby und Elinor sind Geschwister. Vor dem Krieg haben sie eine Nacht miteinander verbracht. Das zumindest wird angedeutet. Der Bruder zieht dann in den Krieg - und kommt nicht mehr zurück. Elinor trauert und will doch die Hoffnung nicht aufgeben. Schließlich wird Toby "nur" als vermisst gemeldet. Diese Leerstelle ist ein großes Thema des Buches. Der Umgang der Menschen mit dem Verlust. Mit einem Leben zwischen Hoffnung und Trauer. Die Daheimgebliebenen leben weiter - und doch dreht sich ihr Denken um die Männer an der Front.
Elinor trifft später auch Paul, ihren früheren Verlobten und Kit, einen Studienfreund, wieder. Kit war mit Toby an der Front. Nun ist er zurückgekehrt mit einer dieser schweren Gesichtsverletzungen, die das Leben zehntausender junger Männer mit einem Schlag verändert haben. Neville weiß offenbar mehr über Tobys letzte Stunden. Das aber bleibt zunächst sein Geheimnis. Erst ganz am Ende wird es gelüftet.
Bilder des Schreckens
Pat Barker weiß mit großen Spannungsbögen umzugehen. Doch ihr Roman verfügt über weitere Qualitäten. Elinor, die vor dem Krieg Kunst studiert hat, trifft ihren Kunstlehrer Henry Tonks nach dem großen Schlachten wieder - im Krankenhaus. Dort hat er die schwierige Aufgabe übernommen, die schlimmen Verwundungen zu zeichnen und für die Wissenschaft und die Nachwelt festzuhalten. Elinor unterstützt ihn dabei. Diese Zeichnungen hat es tatsächlich gegeben. Wer mag, kann sie sich heute noch anschauen.
Pat Barker steht hierzulande zu unrecht im Schatten populärer britischer Autoren wie Ian McEwan, John Banville oder Martin Amis. Eigentlich ist es eine Blamage, dass mit "Tobys Zimmer" derzeit nur ein einziger Roman der Engländerin vorliegt. Ihre bisher ins Deutsche übertragenen Romane muss man sich hierzulande antiquarisch besorgen. Dabei müssten ihre Bücher in diesem Weltkriegsjubiläumsjahr ein Renner sein. Barker, 1995 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet, hat sich in der Trilogie "Regeneration" mit den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Engländer auseinandergesetzt. Deutsche Verlage sollten sich um diesen literarischen Schatz jetzt kümmern. Vorerst bleibt also nur "Tobys Zimmer". Es ist ein hinreißendes Buch. Neben den vielen historischen Sachbüchern dürfte dieser Roman ein literarischer Höhepunkt des Jahres 2014 sein - unabhängig von der Tatsache, dass er jetzt so gut hineinpasst ins Gedenkjahr.
Pat Barker: Tobys Zimmer, Dörlemann Verlag 2014, 400 Seiten, ISBN 978-3-03820-001-7.