Loveparade-Prozess beginnt
7. Dezember 2017Was heute mit rund 30 Minuten leicht verspätet begann, dürfte einer der größten Prozesse der Nachkriegsgeschichte werden. Insgesamt sind immerhin 111 Verhandlungstage geplant. Der Aufwand ist immens. Allein die Hauptakte umfasst nach Angaben des Landgerichts Duisburg 117 Ordner mit rund 53.000 Seiten. Angeklagt sind zehn Personen wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung. Wegen der großen Zahl der erwarteten Nebenkläger und ihrer Anwälten, der zahlreichen Verteidiger, Medienvertreter und interessierten Besucher hat das Landgericht einen Saal auf dem Düsseldorfer Messegelände angemietet.
Der Tag der Katastrophe
Der 24. Juli 2010 ist ein sonniger Samstag. Das Wetter zieht besonders viele junge Leute an, die sich an diesem Tag einfach nur amüsieren und zu lauter Musik abtanzen wollen. Was es in Berlin als Loveparade nicht mehr gab, sollte im Ruhrgebiet eine würdige Nachfolge finden, so der Anspruch der Veranstalter. Doch der Hauptzugang zum Gelände der Feier führt durch einen Tunnel, der 400 Meter lang und nur 18 Meter breit ist.
Am Nachmittag sind nach Augenzeugenberichten so viele Menschen in dem Tunnel, dass viele feststecken und nicht mehr atmen können. Eine Massenpanik entsteht, Besucher schieben sich in unterschiedliche Richtungen. Menschen werden erdrückt, fallen zu Boden und werden von anderen zu Tode getrampelt.
Der erste Versuch einer juristischen Aufarbeitung
Direkt nach dem Unglück ermittelt zunächst die Staatsanwaltschaft Duisburg. Die Staatsanwälte befragen über tausend Augenzeugen. Sie durchforsten über 900 Stunden Videomaterial. Sie analysieren die Versuche von Polizei und Ordnern, die Besucherströme zu lenken und zu beschränken. Die Polizei habe keine Fehler gemacht, sagt der damalige Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Ralf Jäger, und stellt sich schnell vor seine Beamten.
Die Ermittler konzentrieren sich auf Planungsfehler im Vorfeld der Raverparty. Dem Veranstalter Rainer Schaller und dem damaligen Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland könne kein unmittelbares Verschulden nachgewiesen werden, heißt es. Nach dreieinhalb Jahren erhebt die Staatsanwaltschaft schließlich im Jahr 2014 Anklage gegen sechs Mitarbeiter der Stadtverwaltung Duisburg und vier Mitarbeiter der Veranstaltungsfirma Lopavent.
Das Landgericht Duisburg prüft die Anklage der Staatsanwaltschaft in einem sogenannten "Zwischenverfahren" auf Erfolgsaussichten und beschäftigt sich dabei vor allem mit einem umstrittenen Gutachten des britischen "Crowd- und Panikforschers" Keith Still. Das Gutachten erscheint dem Gericht als zu wenig fundiert. Viele Beweise seien nicht wirklich verwertbar. Nach fast zwei Jahren im März 2016 entscheidet die 5. Strafkammer des Landgerichts Duisburg, das Hauptverfahren nicht zuzulassen. Auf rund 460 Seiten wird begründet, warum Verurteilungen wenig wahrscheinlich seien. Unmittelbar danach reichen Staatsanwaltschaft und Nebenkläger Beschwerde beim Oberlandesgericht Düsseldorf ein.
Der Aufschrei von Geschädigten und Opferangehörigen
"Für mich war die Prozessablehnung so, als wenn Christian ein zweites Mal gestorben wäre", schildert Gabi Müller ihre Empfindungen im Gespräch mit der DW. Die Friseurin aus Hamm hat bei dem Unglück ihr einziges Kind, ihren 25-jährigen Sohn verloren. Erst sei sie wie gelähmt gewesen, doch dann entschloss sie sich zu einer Petition im Internet, die auf ihren Fall und auf eine Aufarbeitung in einem Prozess aufmerksam machen sollte. Schon nach einer Woche hatten zehntausend Unterstützer unterschrieben. Am Ende waren es über 360.000. "Die Resonanz war überwältigend und schön zu sehen, dass Menschen das Unglück nicht vergessen", schwärmt Müller. Auch aus dem Ausland gab es viele Reaktionen, die ihr Mut machten. Viel Halt gibt ihr auch der Freundeskreis ihres Sohnes. Regelmäßig brächten sie von Urlauben und Reisen Geschenke mit und dekorierten damit sein Grab - zuletzt mit Sand und Muscheln aus der Dominikanischen Republik. "Er wird nicht vergessen und hat seinen Platz", sagt Gabi Müller dazu. Dies sei für sie viel schöner als ein Aufenthalt an der offiziellen Gedenkstätte in Duisburg: "Den Ort meide ich."
Viele der Überlebenden versuchen die Folgen der Katastrophe heute noch zu verarbeiten. Wie Gabi Müller sind viele in therapeutischer Betreuung. Nicht wenige der traumatisierten Opfer können ihren Beruf nur noch teilweise oder gar nicht mehr ausüben. Sie alle sind froh, dass jetzt die Wende kommt, die kaum noch jemand erwartet hätte.
Die juristische Wende
Das Oberlandesgericht Düsseldorf veranlasste als höhere juristische Instanz im April 2017 das Landgericht Duisburg, doch noch das Hauptverfahren zu eröffnen, ab 8. Dezember, diesmal aber vor der 6. Großen Strafkammer. Eine Verurteilung - so das Oberlandesgericht - sei "hinreichend wahrscheinlich".
Ankläger und Verteidiger
Julius Reiter von der Kanzlei Baum & Reiter in Düsseldorf hat Gabi Müller wie 100 weitere Mandanten juristisch in den vergangenen Jahren betreut und ist erleichtert, dass seine Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Erfolg hatte. Für den bevorstehenden Prozess ist er zuversichtlich: "Ich halte den Sachverhalt für weitgehend klar, was die Schuldfrage angeht." Eine nicht genehmigungsfähige Veranstaltung sei einfach durchgezogen worden. "Eine bestehende Mängelliste ist nicht abgearbeitet worden", bekräftigt Reiter im DW-Interview. Dazu gehörten zum Beispiel Zäune in nicht ausreichender Qualität, keine Möglichkeit für Notfalldurchsagen und eine unzureichende Anzahl von Ordnern. Hinzu käme, dass die Durchgänge reduziert und verkleinert worden seien.
Die rund 60 Nebenkläger wie Gabi Müller werden von 35 Anwälten vertreten. Ihnen gegenüber lassen sich die zehn Angeklagten von Stadt und Veranstalter von 30 Juristen verteidigen. Aus ihrem Kreis ist zu erfahren, dass Freisprüche möglich sein könnten, weil viele Faktoren zu dem Unglück beigetragen hätten. Die Kölner Strafverteidigerin Kerstin Stirner erklärt zu diesem Punkt: "Die individuelle Schuld einzelner Personen wird nicht feststellbar sein." Dies sei aber Voraussetzung für ihre Verurteilung. Unklar sei noch, welche Rolle das neue, zweite Gutachten zu den Besucherströmen spielen könnte. Die "zahlreichen Fehler der Polizei" wären darin unberücksichtigt geblieben, so Stirner.
Was Opfer und ihre Angehörigen wollen
"Mir geht es um Aufklärung. Warum mussten Kinder sterben? Wer hat da versagt?" Deshalb will Gabi Müller auch unbedingt zum Prozessauftakt kommen. "Ich möchte in die Gesichter der Angeklagten schauen und sehen, was sind das für Menschen?" Gabi Müller sieht dem Prozess dennoch realistisch entgegen. Sie hält es durchaus für möglich, dass es nicht zu klaren Verurteilungen kommt. Dann aber habe man Zeichen gesetzt, dass sich so etwas nie wiederholt: "Dass unsere Kinder tot sind, muss doch einen Sinn gehabt haben."