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Luftverschmutzung: Europas dreckigste Städte

Rodrigo Menegat Schuinski
7. September 2023

Die EU diskutiert neue Regeln zur Luftqualität. 98 Prozent der Menschen in Europa atmen schlechtere Luft als von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen.

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Smog über Bulgariens Hauptstadt Sofia (27.11.2020)
Smog über Bulgariens Hauptstadt Sofia (2020)Bild: NIKOLAY DOYCHINOV/AFP/Getty Images

Fast die gesamte europäische Bevölkerung lebt in stark verschmutzten Städten, in denen die jährlichen Durchschnittswerte für Feinstaub höher sind als die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Grenzwerte. Beinahe jeder Mensch auf dem Kontinent atmet also Luft, die erwiesenermaßen gesundheitsschädlich ist - und tödlich sein kann.

Denn Luftverschmutzung erhöht das Risiko von Atem- und Herzkrankheiten und senkt die Lebenserwartung. "Mit dem derzeitigen Level an Luftverschmutzung werden viele Menschen krank. Es ist klar, dass weniger Luftverschmutzung diese Zahlen senken würde", sagt Mark Nieuwenhuijsen, Direktor des Barcelona Instituts für Weltgesundheit (ISGlobal).

Wie verschmutzt ist die Luft in Europa?

Gemeinsam mit dem European Data Journalism Network hat die DW Satellitendaten des Copernicus Atmospheric Monitoring Service (CAMS) ausgewertet. Die Analyse zeigt, dass im Jahr 2022 fast alle Menschen in Europa - 98 Prozent der Bevölkerung - in Gebieten lebte, in denen die Feinstaubkonzentration über dem von der WHO festgelegten Grenzwert lag. Die einzigen Ausnahmen waren Island, Finnland, Norwegen und Schweden.

Laut der WHO sollte die jährliche Durchschnittskonzentration von Feinstaub fünf Mikrogramm pro Kubikmeter Luft nicht überschreiten. Ein Mikrogramm ist tausendmal weniger als ein Milligramm. Unserer Analyse zufolge erreichen die am stärksten verschmutzten Regionen Europas jährlich aber eine durchschnittliche Feinstaubkonzentration (PM2,5) von etwa 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. 

Zwar sind hohe Luftverschmutzungswerte für einzelne europäische Städte bereits bekannt. Diese neue Datenanalyse bietet jedoch erstmals einen umfassenden Blick auf das Problem in ganz Europa: Wir vergleichen das Ausmaß der Verschmutzung in verschiedenen Regionen, zeigen, wo sich die Luftqualität verbessert hat und wo sie schlechter geworden ist.

Die Daten zeigen außerdem, wie politische Maßnahmen dazu beitragen, Feinstaub in der Luft zu reduzieren. Besonders relevant ist das vor dem Hintergrund der anstehenden EU-Debatte über neue Vorschriften zu Luftverschmutzung, die voraussichtlich in der kommenden Woche stattfinden wird.

Was ist Feinstaub?

Feinstaub - üblicherweise als PM2,5 abgekürzt - besteht aus sehr kleinen Partikeln, einer Kombination aus vielen unterschiedlichen Materialien und Schadstoffen. Diese Schadstoffe sind mit bloßem Auge nicht erkennbar. Sie haben einen Durchmesser von weniger als 2,5 Mikrometern, das ist etwa 30-mal dünner als ein einzelnes Haar.

Obwohl es viele andere gesundheitsschädliche Stoffe gibt, konzentriert sich die Diskussion häufig auf Feinstaub. Denn es gibt klare wissenschaftliche Belege für dessen negative gesundheitliche Auswirkungen.

Wie schmutzig ist Europas Luft im Vergleich zum Rest der Welt?

Die Luftqualität ist in Europa generell besser als in anderen Regionen der Welt. In Städten im Norden Indiens - wie Neu-Delhi, Varanasi oder Agra - können etwa durchschnittliche PM2,5-Werte von bis zu 100 Mikrogramm pro Kubikmeter erreicht werden.

In Europa liegen die Höchstwerte bei etwa 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. Selbst bei Europas vergleichsweise niedrigeren Werten hat die Luftverschmutzung jedoch bereits erhebliche gesundheitliche Folgen.

Was schlägt die EU als Grenzwert vor?

Die neuen Regeln der Europäischen Union zur Luftqualität Europas würden eine jährliche durchschnittliche Konzentration von 10 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft erlauben. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hatte vorgeschlagen, die Empfehlungen der WHO zu übernehmen, die mit fünf Mikrogramm feiner Partikel pro Kubikmeter Luft strenger sind.

Selbst 10 Mikrogramm wären noch eine Verbesserung im Vergleich zu den aktuellen Standards, die jährliche PM2,5-Konzentrationen von 20 Mikrogramm pro Kubikmeter zulassen - viermal höher als die derzeitige WHO-Empfehlung.

Besonders verschmutzt sind derzeit etwa Teile Osteuropas, das Po-Tal in Italien und größere Metropolregionen wie Athen, Barcelona oder Paris. Gesundheitsforscher und Umweltschützer argumentieren, dass die neuen EU-Richtlinien die Grenzwerte der WHO übernehmen sollten, geben jedoch zu, dass dies eine Herausforderung wäre.

"Die EU-Grenzwerte beziehen nicht nur gesundheitliche Überlegungen mit ein, sondern auch wirtschaftliche Argumente. Die die WHO-Grenzwerte hingegen wurden von Experten erstellt, die nur die Gesundheit berücksichtigen", sagt Forscher Nieuwenhuijsen. "Ich hoffe, die EU wird sich für die Richtlinien der WHO entscheiden. Aber wahrscheinlich werden einige argumentieren, dass das zu teuer wäre."

Wie viele Todesfälle durch Luftverschmutzung könnten verhindert werden?

Umweltbehörden berichten, dass jedes Jahr viele Tausend Menschen vorzeitig aufgrund von Krankheiten sterben, die durch Luftverschmutzung verursacht werden. Mitte Februar 2023 etwa waren viele Städte im Po-Tal in Italien durch Smog verhüllt. Die Lombardei und Venetien waren besonders betroffen. Laut Forschern des Copernicus stieg zu dieser Zeit die durchschnittliche tägliche Konzentration von PM2,5 in Städten wie Mailand, Padua und Verona auf über 75 Mikrogramm pro Kubikmeter.

Das liegt zum Teil an der Geografie der Region: Sie ist umringt von Bergen, sodass die Verschmutzung durch starken Verkehr, Industrie, landwirtschaftliche Emissionen und Wohnheizungen in der Gegend festgehalten wird.

Eine in der Wissenschaftszeitschrift "The Lancet" veröffentlichte Studie hat anhand von Daten aus dem Jahr 2015 geschätzt, dass etwa 10 Prozent der Todesfälle in Städten wie Mailand vermieden werden könnten, wenn die durchschnittlichen PM2,5-Konzentrationen um etwa 10 Mikrogramm pro Kubikmeter sinken würden.

Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass es insgesamt 100.000 Todesfälle durch Luftverschmutzung jährlich vermieden werden könnten, wenn Europas Großstädte ihre Feinstaubbelastung auf fünf Mikrogramm pro Kubikmeter reduzieren könnten. Doch das ist nicht die Richtung, in die sich das Po-Tal entwickelt.

"Zusätzlich zu einer ungünstigen geografischen Lage haben wir genau das Gegenteil von dem getan, was wir tun sollten", sagt Anna Gerometta, Anwältin und Präsidentin von Cittadini per l'Aria, einer italienischen Nichtregierungsorganisation, die sich für strengere Regeln zu Luftqualität in Italien einsetzt. Laut Gerometta seien die derzeitigen Maßnahmen gegen Verschmutzung durch Autos, Wohnheizungen und Fleischfabriken zu schwach, um dem Ausmaß des Problems zu begegnen.

Was kann die Politik tun, um die Luftqualität zu verbessern?

In Teilen Polens gehören die Verschmutzungswerte zu den höchsten in Europa. Doch seit 2018 - dem ersten Jahr in unserer Analyse - fallen sie stetig.

Ein Beispiel ist Krakau, die zweitgrößte Stadt des Landes. Im Jahr 2018 lag die Feinstaubbelastung dort bei fast 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. Bis Ende 2022 sank sie um mehr als 20 Prozent. Auch in Nachbarstädten wie Katowice, Gliwice und Tychy sowie Poznań und in der Hauptstadt Warschau wird die Luft sauberer.

Zuvor hatten die polnischen Behörden beschlossen, die Heizungen vieler Wohngebäude zu modernisieren, allgemein als "Raucher" bekannt. "Wir nennen sie 'Raucher', weil sie viel Rauch produzieren", sagte Piotr Siergiej von der Umweltorganisation Polish Smog Alert. "Fast 800.000 wurden ausgetauscht, aber es gibt immer noch etwa 3 Millionen. Es ist ein langsamer Prozess."

Die Region Krakau hat 2019 verboten, in Wohngebäuden mit Kohle und Holz zu heizen. Inzwischen wurden dort fast alle alten Heizungen ausgetauscht.

Wie beeinflusst die öffentliche Meinung zur Luftverschmutzung die Politik?

Vor zehn Jahren, wenn man in Polen über Luftverschmutzung gesprochen habe, hätten die Leute gesagt, das sei "kein großes Problem", so Siergiej. "Der größte Erfolg ist also die Veränderung der Wahrnehmung." Das Gesetz sei wichtig, aber die Politik werde nur das tun, was Wähler wollen.

In Italien gibt es ein ähnliches Kommunikationsproblem zwischen Wissenschaft und Alltagsleben: "Die Leute verstehen das Problem mit der Luftverschmutzung nicht. Da man es oft nicht sieht, erkennt man die Auswirkungen nicht", so Umweltschützerin Gerometta.

Aber die Dinge ändern sich. Fast die Hälfte der europäischen Bevölkerung glaubt, ihre Luftqualität habe sich in den vergangenen zehn Jahren verschlechtert. Das ergab eine Eurobarometer-Umfrage aus dem vergangenen Jahr.

Die meisten Menschen in der EU sehen Atemwegserkrankungen, die durch Luftverschmutzung verursacht werden, als ernstes Problem. Viele Befragte gaben zwar an, nicht gut über die aktuellen Standards informiert zu sein. Doch unter denjenigen, die sich als informiert einschätzen, findet die überwiegende Mehrheit, dass die Regeln zur Luftqualität verschärft werden sollten.

Daten, Code und Methodik dieser Analyse gibt es in diesem Verzeichnis. Weitere datengestützte Artikel der DW finden Sie hier.

Adaptiert aus dem Englischen von Kira Schacht.

Dieses Projekt ist eine Zusammenarbeit mehrerer Medien im European Data Journalism Network.