1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Luk Perceval: "In Brüssel investieren"

Sarah Judith Hofmann (Interview)24. März 2016

Mehr Integration von Flüchtlingen, auch in der Kultur. Das fordert der belgische Regisseur Luk Perceval im DW-Interview. Das Thalia Theater will er frühzeitig verlassen, um multikulturelles Theater in Brüssel zu machen.

https://p.dw.com/p/1IJYW
Der Regisseur Luk Perceval
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Herr Perceval, am Dienstag (22. März 2016) haben Terroristen des selbsternannten "Islamischen Staats" (IS) zwei Anschläge in Brüssel verübt und dabei mehr als 30 Menschen getötet. Sie sind Belgier. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von den Attentaten erfahren haben?

Luk Perceval: Ich habe wie immer morgens belgisches Radio gehört. Als die erste Nachricht kam, war ich erst einmal im Schock. Es wirkte wie ein grausamer Alptraum. Meine ersten Gedanken sind dann zu meinen Freunden nach Brüssel gegangen. Ich habe meinen Söhnen eine Nachricht geschickt, meine Familie gefragt, wie es ihnen geht. Es ist schon merkwürdig, was für eine Emotion das auslöst.

Sie haben erst kürzlich bekannt gegeben, 2018 ans Flämische Nationaltheater nach Brüssel zu gehen, um dort ein multikulturelles Theater für den "europäischen Melting pot" zu konzipieren. Wie fühlen Sie sich jetzt mit dieser Idee?

Ich habe schon vor dem Attentat geglaubt, dass wir in Brüssel investieren müssen. Es ist nicht umsonst die Hauptstadt Europas. Dort kommen so viele Menschen aus aller Welt zusammen, nicht nur Eurokraten, sondern Menschen, die auf der Suche sind nach einem neuen Zuhause in Europa, viele Flüchtlinge und auch viele Menschen ohne Perspektive. Es gibt in Brüssel einen irrsinnigen Unterschied zwischen "Haves" und "Have-nots" [zwischen wohlhabenden und ärmeren Bevölkerungsschichten; Anm. der Redaktion]. Dazu kommt Belgien mit seinen vielen Sprachen, weshalb die Stadt, glaube ich, noch einmal sehr viel komplexer ist als viele andere in Europa. Nach den Anschlägen sprechen wir wieder über den IS, aber ich glaube, der IS ist nur eine Flagge, um sehr viel persönlichen Frust zu äußern. Und in Städten wie Brüssel oder auch Paris lebt sehr viel Frust. Wir müssen mit allen Talenten, die wir haben – in meinem Fall heißt das, als Künstler, als Theatermacher – versuchen, in Brüssel zu investieren, etwas zu tun, damit diese schreckliche Sache nie wieder passiert.

Belgien Maalbeek U-Bahn Haltestelle Kinderzeichnungen
Brüssel: Kinderzeichnungen an der U-Bahn-Haltestelle MaalbeekBild: DW/C. Martens

Brüssel gilt als eine Hochburg für Dschihadisten in Europa. Dafür wird auch ein Mangel an Integration verantwortlich gemacht. Die mutmaßlichen Täter, die Brüder El Bakraoui sind in Brüssel geboren und aufgewachsen. Was läuft in Belgien schief?

Ich glaube, letztendlich geht es um Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen und die gegen das Gefühl einer Übermacht agieren. Man muss also überlegen, woher kommt dieses Gefühl? Meiner Meinung nach hat es viel mit dem Schulsystem zu tun, mit einer irrsinnig hohen Arbeitslosigkeit, dass diese Leute glauben, chancenlos zu sein, dass sie allein in der Kriminalität eine Zukunft sehen.

Ist das multikulturelle Brüssel gescheitert?

Das halte ich für einen der großen Fehler dieser Zeit, dass man sehr negativ über Multikulturalität redet, als sei dies alleinig eine Basis für Terrorismus. Wir dürfen nicht vergessen: Diese Jungs, die das gemacht haben, waren Kriminelle und diese sind unter all den Menschen, die in dieser Stadt leben, eine absolute Minderheit. Man darf nicht vergessen: Auch die Flüchtlinge, die jetzt kommen, sind Opfer eben dieses Terrorismus. Ich finde, man sollte helfen, wo man kann und vor allem die positiven Seiten der Multikulturalität sehen.

Der Regisseur Luk Perceval
Perceval erhielt am 16.11.2013 den Deutschen Theaterpreis "Der Faust"Bild: picture-alliance/dpa

Wie könnte Integration besser funktionieren?

Einer der Gründe, warum ich nach Brüssel ziehe und dieses multikulturelle Projekt starte, ist, weil ich glaube, dass wir Theater und Kunst für eine Clique von Eingeweihten machen. Wir tun zu wenig, um Menschen, die sich nicht zu diesen Eingeweihten zugehörig fühlen, ins Theater, ins Museum, in die Bibliotheken zu holen. Wir müssen sie einbeziehen, einladen, teilnehmen lassen. Man gibt den Menschen bislang nicht das Gefühl von "ihr seid hier auch Zuhause". Dieses Gefühl von Ausgesperrtsein führt zu Frust, zu Wut. Wenn Sie mich also fragen: Was sollte passieren? Wir sollten die positiven Seiten sehen und nicht die Angst schüren.

Ihr aktuelles Stück "Früchte des Zorns", nach dem Roman von John Steinbeck, beschäftigt sich auch mit dem Thema Migration. Die Mitglieder der Farmerfamilie, um die es geht, sind das, was heute häufig als "Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnet wird.

Ich habe mir diesen Text ausgesucht, weil dies etwas ist, das uns alle beschäftigt und weil mir die positive Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsthema fehlt. Es geht immer nur um die Gefahr, die Angst, die Drohung. Man darf nicht vergessen: Die übergroße Mehrheit dieser Menschen gehört zu den unschuldigen Opfern. Und Ökonomen haben längst darauf hingewiesen, dass wir diese Menschen brauchen als Impuls für unsere Wirtschaft. In dem Sinne spielen wir diese Geschichte über Amerika. Was wären die USA ohne die irische oder auch die afrikanische Zuwanderung? Amerika ist das Beispiel, dass gerade durch die Vermischung verschiedener Kulturen eine sehr reiche und weltweit prägende Kultur entstanden ist.

Auch alle Schauspieler in dem Stück haben einen Migrationshintergrund, ihre Eltern stammen aus Indonesien, Nigeria oder Bosnien. Das ist eher selten für deutsche Bühnen. Was kann das Theater für Integration tun?

Die große Kraft des Theater ist, dass man sich nicht nur wiedererkennt auf der Bühne, in einer Figur, sondern dass man sich mit eingeschlossen fühlt. Auf der Bühne werden Fragen gestellt, mit denen jeder Mensch kämpft. Fragen über Liebe, Tod, Krieg. Alles, was wir im Leben nicht wissen und worüber wir eine Unsicherheit verspüren. In dem Moment, wo wir dieses Nichtwissen, diese Unsicherheit in der Gruppe spüren, darüber gemeinsam weinen oder lachen können, entsteht ein Gemeinschaftsgefühl. Kunst ist, das Gefühl von Einsamkeit des Menschen für einen Moment aufzuheben. Zu spüren, dass wir alle Teil einer Menschheit sind, die die gleichen Probleme und Zweifel hat.

Belgien Maalbeek U-Bahn Haltestelle Zerstörung
Der Anschlag ist der Haltestelle Maalbeek noch immer anzusehenBild: DW/C. Martens

Wie stark sollte sich Theater aktuellen gesellschaftlichen Themen widmen?

Ich bin in Belgien aufgewachsen, einem Land, das in der Vergangenheit so oft ein Kriegsgebiet gewesen ist, eine Art Durchfahrtsstraße von Europa, wo man mit so vielen Kulturen und Sprachen konfrontiert wird. Daher spüre ich persönlich das Bedürfnis, den Menschen zu sagen: Passt auf, zieht keine Zäune hoch. Das wird uns nichts bringen. Ob das alle Theater machen sollten? Ich weiß es nicht. Es muss schon ein ehrliches Engagement dahinterstecken. Aber man spürt nach Paris und nach Brüssel, dass es eine Notwendigkeit gibt, über unseren Schock zu sprechen, nicht mehr zu wissen, wo wir im Leben stehen. Und ich glaube es ist wichtig, dass die Theater dafür einen Raum schaffen. Dass es einen Ort gibt, an dem sich die Menschen über ihre Gefühle austauschen können.

Wie optimistisch blicken Sie wenige Tage nach den furchtbaren Anschlägen in die Zukunft?

Ich befürchte, dass dies erst der Anfang von etwas Schrecklichem sein könnte. Ich hoffe, dass die Friedensgespräche in Syrien etwas Konstruktives erreichen. Für diesen Krieg müssen diplomatischen Lösungen gefunden werden. Es geht nicht nur um Kriminelle, die in Brüssel auf dem Dachboden sitzen. Salah Abdeslam konnte sich vier Monate in Brüssel verstecken, dass zeigt, wie mächtig das Netzwerk dahinter ist. Die grundsätzliche Frage ist aber, inwieweit der Terror nicht auch verbunden ist mit einem sehr starken Unrecht in der Welt, vor allem in der arabischen Welt. Ich fürchte wirklich, dass es zu einer Eskalation kommt, solange man nicht grundsätzlich etwas an dieser Spaltung zwischen arm und reich – nicht nur in Brüssel, sondern weltweit – ändert. Solange befürchte ich, dass das Morden nicht beendet ist.

Theaterstück Front im Hamburger Thalia-Theater
Bernd Grawert im Theaterstück "Front" im Hamburger Thalia-Theater 2014 (Regie: Luk Perceval)Bild: picture-alliance/Christian Fürst

Das Interview führte Sarah Judith Hofmann

Luk Perceval ist seit 2009 leitender Regisseur des Thalia Theaters in Hamburg. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Theaterpreis. Seine Produktionen wurden immer wieder zum Theatertreffen eingeladen, zuletzt "Jeder stirbt für sich allein" nach dem gleichnamigen Roman von Hans Fallada. Sein aktuelles Stück "Früchte des Zorns" ist noch bis einschließlich Juni 2016 im Thalia Theater zu sehen.