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Lust und Last der deutschen Einheit

Kommentar von Wolter von Tiesenhausen1. Oktober 2001

Als die Deutschen vor elf Jahren ihre nationale Einheit zurück erhielten, war die Freude groß. Doch schon bald folgte die Ernüchterung.

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Pessimismus ist eine leider weit verbreitete Untugend. Um sich gegen Enttäuschungen zu wappnen neigt der Mensch dazu, die Nachteile stärker zu gewichten als die Vorteile. Widerfährt ihm Gutes, so ist das eine Selbstverständlichkeit, die schnell vor möglichem neuen Unheil verblasst. Als die Deutschen vor elf Jahren ihre nationale Einheit zurück erhielten, war die Freude groß. Ost und West lagen sich in den Armen, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte blühende Landschaften versprochen, alles würde schöner und besser werden.

Doch schon bald folgte auf den Freudenrausch die Ernüchterung. Die ostdeutschen Landschaften wollten nicht so schnell erblühen, wie dies die Menschen erhofft hatten. Ein halbes Jahrhundert Diktatur ließ sich nicht von heute auf morgen wegwischen. Die Eigeninitiative war erlahmt, tüchtige Leistungsträger nach Westen abgewandert. Die Rangordnung der Werte hatte sich verschoben. Unsicherheit machte sich breit und führte zu Intoleranz. Plötzlich verdunkelten Hoffnungslosigkeit und die böse Fratze des Hasses das eben noch strahlende Bild des wiedervereinigten Deutschlands.

Im zwölften Jahr ist es hohe Zeit, genauer zu differenzieren, was denn nun Lust und was Last an der deutschen Einheit ist. Dass alle Deutschen in einer parlamentarischen Demokratie zusammenleben, dass sie Frieden haben mit ihren Nachbarn, dass sie eingebunden sind in internationale Solidaritätssysteme, ist das mit Abstand höchste Gut. Dazu kommen die Aufbauleistungen in Ostdeutschland. Hier gibt es erfolgreiche und leider auch weniger erfolgreiche Beispiele. Noch immer liegt die Arbeitslosigkeit über der im Westen und die Produktivitätsrate deutlich darunter. Doch in Sachsen, Thüringen und dem brandenburgischen Speckgürtel um Berlin boomt es, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern hinken hinter her.

Während viele Deutsche noch immer die Unterschiede zwischen Ost und West sehen, ist für die meisten Ausländer die deutsche Einheit vollzogen. Sie sehen ein Volk mit über 80 Millionen Menschen, eine leistungsfähige Wirtschaft, ein stabiles Sozialsystem mit einer gerechten Staatsordnung und funktionierender Infrastruktur. Für viele Menschen ist dieses Land so attraktiv, dass sie keine Mühen und Gefahren scheuen, um in Deutschland zu leben, und sei es in der Illegalität.

Das führt zu den Lasten, die mit Deutschlands Einheit verbunden sind. Wem viel gegeben ist, von dem wird auch viel erwartet. Deutschland muss seiner Verantwortung gegenüber seinen Nachbarn und Verbündeten gerecht werden. Ob auf dem Balkan oder im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, die Deutschen müssen ihren Beitrag leisten.

Die Zeiten, da man Bettlaken aus den Fenstern hängen und sich mit Milliarde-Überweisungen vor dem eigenen militärischen Engagement drücken konnte, sind vorbei. Die sogenannte Gesinnungsethik, die sich nur um das eigene Gewissen dreht, muss der Verantwortungsethik weichen. Denn die weiß sich in der Pflicht, auch für Andere einzutreten. Jene Anderen, die nicht so stark, nicht so reich und nicht so gut organisiert sind.