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Lüders: "Erdogan hat großen Fehler begangen"

Baha Güngör9. Oktober 2012

In der Syrien-Politik muss die Türkei als starke Regionalmacht auftreten, ohne sich in einen Krieg hineinziehen zu lassen. Im DW-Interview spricht Nahost-Experte Michael Lüders über die schwierige Lage der Türkei.

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Soldaten mit einem Panzer an der türkisch-syrischen Grenze (Foto: AP)
Bild: dapd

DW: Die ganze Welt blickt nach Syrien und in den letzten Tagen vor allem auf die Ereignisse an der syrisch-türkischen Grenze. In Syrien selbst geht der Kampf der Opposition gegen Baschar al-Assad weiter - und damit auch das grausame Blutvergießen. Das Ende des Regimes in Damaskus rückt unweigerlich näher. Aber weiß die Weltöffentlichkeit auch, was sie danach in Syrien erwartet?

Michael Lüders: Nein, es ist völlig offen, wie sich die Zukunft Syriens nach einem Sturz von Baschar al-Assad gestalten wird und es ist auch noch kein Zeitpunkt abzusehen, zu dem Baschar al-Assad die Macht abgeben könnte. Die Regierung in Damaskus ist im Gegenteil der Meinung, dass sie gute Chancen hat, die Aufständischen zu besiegen. Diesen fällt es tatsächlich schwer, entscheidende militärische Siege zu erringen. Die Patt-Situation wird noch längere Zeit andauern. Sicherlich ist vorstellbar, dass Baschar al-Assad etwa bei einem Anschlag ums Leben kommt, aber davon abgesehen sitzt das von den Aleviten, einer religiösen Minderheit, dominierte Regime nach wie vor fest im Sattel.

Wer spielt in der syrischen Opposition die wichtigere Rolle: Sind das Al-Kaida-Leute, Muslimbrüder oder Mitglieder der Hisbollah? Gibt es da überhaupt die Gefahr einer radikalen Islamisierung des Landes?

Die syrische Opposition ist zerstritten, es gibt kein gemeinsames Oberkommando. Es gibt sowohl syrische lokale Kommandanten als auch Kämpfer, die aus dem Ausland eingesickert sind, vielfach aus dem Irak. Sie haben teilweise eine radikale Agenda, stehen den Salafisten oder gar Al-Kaida nahe. Und diese Radikalisierung von Teilen des syrischen Aufstandes ist einer der Gründe dafür, warum die sunnitische Mittelschicht in Syrien, die vor allem in Aleppo und in Damaskus lebt, sehr zögerlich ist, sich auf die Seite der Rebellen zu stellen, weil man schlichtweg nicht weiß, was die Zukunft bringt, welche Leute am Ende das Sagen haben werden.

Porträt des Nahost-Experten Michael Lüders (Foto: dpa)
Nahost-Experte Michael LüdersBild: picture-alliance/ dpa

Der Bürgerkrieg ist zwar auch für die religiösen Minderheiten und die syrische Mittelschicht mittlerweile unerträglich geworden, aber es ist keine militärische Lösung in Sicht. Möglicherweise wird das Land nach einem Sturz Assads in verschiedene Einflussgebiete unterschiedlicher Warlords und verschiedener religiöser und ethnischer Gruppierungen zerfallen.

Nach den ersten folgenschweren Granateinschlägen gab es weitere auf türkischem Territorium, die jedoch keine weiteren Menschenleben gefordert haben. Die Türkei übt begrenzte Vergeltung. Droht da wirklich ein Krieg zwischen der Türkei und Syrien? Wäre ein solcher Krieg eines NATO-Staates gegen einen nahöstlichen Nachbarn überhaupt möglich, ohne den befürchteten Flächenbrand auszulösen?

Den Flächenbrand haben wir in gewisser Weise schon. Was ursprünglich als eine Erhebung vor allem der verarmten Teile der sunnitischen Bevölkerung Syriens begonnen hat, ist längst ein internationaler Konflikt geworden, in dem Stellvertreterkriege ausgefochten werden. Wir haben auf der einen Seite den Westen, die Europäer, die USA, die Türkei, aber auch Saudi-Arabien und Katar, die die Rebellen und Aufständischen finanziell und militärisch unterstützen. Und wir haben auf der Seite des syrischen Regimes Russland, China und den Iran.

Ich glaube nicht, dass die türkische Regierung Interesse daran hat, in Syrien militärisch zu intervenieren, aber es kann geschehen, wenn der Beschuss weiter geht und wenn sich vor allem die kurdische Frage weiter zuspitzt. Baschar al-Assad hat der PKK (die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans, Anm. d. Red.), genauer gesagt, einem Ableger der PKK, der Demokratischen Union Kurdistans, den Norden Syriens praktisch überlassen. Es gibt Landstriche im Südosten, die die türkische Armee nicht mehr kontrolliert.

Gleichzeitig hat es eine Zunahme von Terroranschlägen in der Türkei gegeben, das ist eine bedrohliche Entwicklung. In der Türkei gab es eine gewisse Aufweichung in der kurdischen Problematik: Man ist auf die Kurden zugegangen. Es gab begrenzte Rechte für die Kurden einerseits, andererseits aber nicht wirklich die Entschlossenheit der Regierung Erdogans, das kurdische Problem ein für alle Mal politisch zu lösen. Das Zeitfenster für eine politische Lösung hat sich jetzt geschlossen - nicht zuletzt durch die Ereignisse in Syrien. Jetzt setzt die türkische Regierung wieder auf eine gewaltsame Niederschlagung des Kurdenaufstandes.

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan begrüßt seine Anhänger (Foto: dpa)
"Erdogan ist zu früh davon ausgegangen, dass Assad schnell zu stürzen sei"Bild: picture-alliance/dpa

Die türkische Regierung hat also ein Problem: Sie muss einerseits Härte signalisieren, sie muss Rücksicht nehmen auf die nationalistischen Kräfte in der Türkei, aber sie hat nicht wirklich eine militärische Option. Wenn die Türkei im Norden Syriens militärisch intervenieren würde, wird sie unweigerlich hineingezogen in den syrischen Bürgerkrieg und sie wird dann ein ähnliches Szenario erleben wie die NATO in Afghanistan. Man kann zwar einmarschieren, aber es ist sehr schwierig, aus einem solchen Krieg ohne Gesichtsverlust wieder hinauszufinden.

Sie scheinen zum Schluss gekommen zu sein, dass die Syrien-Politik der Türkei gescheitert ist. Hat sich die konservative religiöse Führung der Türkei zu weit aus dem Fenster gelehnt?

Der türkische Premier Erdogan hat nach meinem Empfinden einen großen Fehler begangen, indem er, übrigens wie alle westlichen Staaten auch, zu früh davon ausgegangen ist, dass Baschar al-Assad schnell zu stürzen sei. Er hat offenbar geglaubt, dass sich in Syrien das libysche Szenario wiederholen würde, Baschar al-Assad innerhalb weniger Monate gestürzt würde und er als türkischer Premierminister gewissermaßen einen weiteren Boom an Prestige erleben würde in der arabischen Welt.

Aber die Türkei bezahlt den höchsten Preis für die Fehleinschätzung der Situation: Nicht nur durch die Zunahme der Flüchtlingszahlen, sondern auch mit Blick auf die Gefahr einer bewaffneten Eskalation an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Und vor allem ist natürlich nicht auszuschließen, dass es vermehrt in Istanbul und anderen großen Städten der Türkei Terroranschläge geben wird von radikalen Kurden, aber auch von syrischen Kämpfern.

Hinzu kommt, dass der Krieg oder das türkische Engagement auf Seiten der Opposition in Syrien vor allem von den türkischen Aleviten nicht wirklich gutgeheißen wird. Diese sympathisieren, zumindest emotional, eher mit den Aleviten in Syrien, mit Baschar al-Assad. Dieses Problem kann Erdogan nur lösen, indem er einen nationalen Dialog einleitet: Sowohl mit den gemäßigten Teilen der kurdischen Bevölkerung als auch mit den Aleviten. Tut er das nicht, dann riskiert er, dass die Türkei immer mehr in diesen Krieg hineingezogen wird.

Michael Lüders ist Publizist, Politik- und Wirtschaftsberater, Roman- und Sachbuchautor. Der studierte Islamwissenschaftler und Politologe ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Orientstiftung.