Das Ende der Ära Castro
18. April 2018Wir folgen Juan Carlos über die enge Treppe eines etwas altersschwachen Appartementblocks in Centro Habana - als wir plötzlich in einer geschmackvoll eingerichteten Wohnung stehen. Verfall und Moderne direkt nebeneinander. Gegensätze, wie sie einem in Kubas Hauptstadt auf Schritt und Tritt begegnen. Seit einigen Jahren vermietet Juan Carlos, der lange Jahre als Professor an der Universität gearbeitet hat, zwei Zimmer an Touristen.
"Auch wenn nun wieder weniger US-Amerikaner kommen, läuft es doch ganz gut", sagt er zufrieden. "Früher haben meine Frau und ich ein Zimmer unter der Hand vermietet, aber seit Raúl [Castro, Anm. der Redaktion] Privatwirtschaft zugelassen hat, haben wir die Vermietung legalisiert. Wir zahlen Steuern, aber es bleibt genügend übrig." Juan Carlos gehört zur neuen kubanischen Mittelklasse, den Profiteuren der Reformpolitik von Raúl Castro. "Kuba hat sich verändert in den vergangenen zehn Jahren", sagt Juan Carlos.
"Mehr Möglichkeiten, mehr Öffnung"
Als Raúl 2008 das Präsidentenamt von seinem Bruder Fidel Castro übernahm, setzte er einen schrittweisen Reformprozess in Gang. Die Wirtschaft wurde für ausländisches Kapital geöffnet, der Staatssektor reduziert und mehr Privatinitiative zugelassen. Darüber hinaus erlaubte die Regierung den Kauf und Verkauf von Autos und Immobilien, baute den Internetzugang für die Bevölkerung aus und hob Reisebeschränkungen auf.
"Es hat sich einiges verbessert", sagt Héctor, der an einer Bushaltestelle in Havannas Stadtbezirk Vedado Zeitungen verkauft. "Es gibt mehr Möglichkeiten, mehr Öffnung." Seit einer Weile schon hätten die Kubaner auf einen Wandel gewartet, so der Mittvierziger. "Aber man muss schauen, wie weit dieser Wandel geht und was er den Kubanern bringt."
Mit dem VI. Kongress der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) im April 2011, dem ersten seit 1997, wurde den von Raúl Castro angestoßenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen in Form von 313 Leitlinien ein Rahmen gegeben. Sie dienen als Richtschnur für den Transformationsprozess, von der Regierung als "Aktualisierung des sozialistischen Modells" bezeichnet.
"Soziale Unterschiede werden sichtbarer"
"Unter Raúl ist vieles offener geworden", findet Hilda. Die 74-jährige Rentnerin war lange Jahre als Dolmetscherin bei wichtigen staatlichen Behörden angestellt. "Er hat sich getraut, Kontrolle abzugeben." Dass sich viel geändert hat, findet auch der Singer-Songwriter Jorge García. "Ich weiß nur nicht, ob zum Guten?" Klar könnten Kubaner nun reisen oder ihrer eigenes kleines Business starten. "Der Unterschied ist, dass die sozialen Unterschiede, die es immer gab, viel sichtbarer geworden sind", sagt der Mittdreißiger. "Alles ist teurer geworden, aber die Kubaner verdienen weiterhin dasselbe. Heute kommen die Leute aus Miami und machen Bars und Geschäfte auf."
Seit der Ausweitung des Kleinunternehmertums im Oktober 2010 - in Kuba trabajo por cuenta propia, Arbeit auf eigene Rechnung, genannt - haben sich mehr als eine halbe Million Kubaner in zumeist einfachen Dienstleistungen und Handwerksberufen selbständig gemacht.
Einer, der davon profitiert hat, ist Sergio Machado. "Früher habe ich als Fleischer für den Staat gearbeitet und umgerechnet zehn US-Dollar im Monat verdient. Das hat nicht für einen Tag gereicht", erzählt der 56-jährige. "Jetzt habe ich eine Privatlizenz und arbeite als Tischler. Ich verdiene nicht viel, aber es genügt zum Leben. Mir persönlich geht es viel besser. Und nicht nur mir geht es besser, sondern vielen anderen auch, seit es die Möglichkeit gibt, auf eigene Rechnung zu arbeiten."
Für Ani Esther Pacheco dagegen hat sich nicht viel geändert. Die 28-jährige macht gerade ihren Master in Zivilrecht. "Ich gehöre nicht zur 'aufstrebenden Klasse', die Geschäfte und Bars eröffnet. Ich habe für den Staat gearbeitet, die Löhne sind ein bisschen gestiegen, aber nicht ausreichend. Das müsste sich ändern."
Um die Wirtschaft in Schwung zu bringen, ausländische Kapitalgeber und neue Technologien ins Land zu holen, wurde Ende 2013 rund um den Hafen Mariel, 45 Kilometer westlich von Havanna, eine Sonderwirtschaftszone eingerichtet. Zudem trat ein neues Investitionsgesetz in Kraft, das ausländischen Unternehmen ermöglicht, in fast alle Bereiche der kubanischen Wirtschaft zu investieren. Trotzdem stagniert die wirtschaftliche Entwicklung.
Problemfall Donald Trump
Das hängt auch mit außenpolitischen Faktoren zusammen: der Krise von Kubas wichtigstem Verbündeten und Hauptöllieferant Venezuela und den Beziehungen zu den USA. Die Ende 2014 begonnene Annäherung an den früheren Erzfeind USA dürfte Raúl Castros größte Leistung gewesen sein. Doch die anfängliche Euphorie ist verflogen. Unter Präsident Donald Trump sind die USA zur Kalten-Krieg-Rhetorik der 1960er Jahre und zur Konfrontation zurückgekehrt.
"Die neue US-Regierung hat die Situation verkompliziert", sagt Pacheco. Die Annäherungspolitik Obamas habe in Kuba große Hoffnungen geweckt, vor allem unter Jüngeren. Der neuerliche Schwenk durch Trump "verschließt uns so viele Möglichkeiten. Wenn die Weltmacht Dir die Tür zumacht, verkompliziert das die wirtschaftliche Situation ungemein."
Die neue Feindseligkeit der USA hat bei Kubas Regierung zu einer "Fasten-your-seat-belts"-Reaktion geführt. Weitere Schritte von Öffnung und Reform wurden zunächst hinten angestellt, die Öffnung des Privatsektors gebremst. Weite Teile der Bevölkerung bemerken auch mehr als sieben Jahre nach Beginn der "Aktualisierung des sozialistischen Modells" kaum etwas von einer Verbesserung ihrer Lebensumstände. Sie kämpfen weiter mit geringen staatlichen Einkommen und hohen Lebensmittel- und Konsumgüterpreisen. Vor allem junge, gutausgebildete Leute verlassen das Land oder träumen von Auswanderung.
"Die Leute wollen weg"
Ein junger Mann, der Obst und Gemüse auf einem Wochenmarkt in Vedado verkauft, hält mit seiner Unzufriedenheit nicht hinter den Berg. "Die Leute wollen einen Wandel", sagt er. Seinen Namen will er lieber nicht nennen. "Aber hier wird sich nichts ändern. Wenn ich die Möglichkeit habe, bin ich weg hier." Und fügt an: "Seit einer Weile ist das Einzige, was die Leute wollen: Abhauen. Und wer nicht abhauen kann, der beklaut die anderen, um seiner Familie Essen auf den Tisch stellen zu können", sagt er.
Nach zehn Jahren Raúl Castro fällt die Bilanz also gemischt aus: Zwar hat der Annäherungsprozess mit den USA zusammen mit den angestoßenen Veränderungen, wie mehr Autonomie für Staatsunternehmen, der Ausweitung der Arbeit auf eigene Rechnung, dem Gesetz für ausländische Investitionen usw., für eine neue wirtschaftliche Dynamik gesorgt. Von den vor sieben Jahren beschlossenen Reformvorhaben wurde aber bisher gerade einmal ein Bruchteil umgesetzt.
Die Wirtschaft müsse wachsen, um die Situation der Bevölkerung zu verbessern, sagt der Soziologe Juan Valdés. "Basiskonsum, Gesundheit und Bildung sind gesichert, aber es gibt andere Forderungen und Erwartungen der Bevölkerung, die nicht erfüllt werden können, ohne dass sich die Wirtschaft erholt. Deshalb ist das Thema Wirtschaft politisch entscheidend." Oder wie es der frühere kubanische Diplomat Carlos Alzugaray ausdrückt: "(Es) schälen sich drei Hauptherausforderungen heraus: Wirtschaft, Wirtschaft und Wirtschaft. Ich meine damit die Verwirklichung der Versprechen nach mehr Wohlstand."
Juan Carlos wünscht sich eine weitere Öffnung, vielleicht Kredite, damit Leute ihre Geschäftsideen verwirklichen können. "Der Staat kann nicht alles kontrollieren." "Es müssen sich Dinge ändern", sagt auch Hilda. "Wirtschaftlich können wir nicht gegen den Strom schwimmen. Auch in Vietnam und China hat es Reformen gegeben." Der Staat solle die Schlüsselindustrien behalten, aber kleine und mittlere Unternehmen privatisieren, findet sie. Sie hofft, dass, wer der neue Präsident die Linie Raúl Castros fortführt.
"Jetzt kommen Jüngere ans Ruder, die anders denken", sagt Machado mit Blick auf den anstehenden Regierungswechsel und hofft auf wirtschaftlichen Aufschwung. "Mir ist es egal, wer an die Macht kommt. Hauptsache, ich bekomme meine drei Pesos zusammen."