Macron muss um absolute Mehrheit bangen
19. Juni 2022Die Botschaft, die Präsident Emmanuel Macron in den letzten Tagen mehrfach verkündete, war eindringlich. Chaos drohe Frankreich, wenn er in der zweiten Runde der Parlamentswahl keine klare Mehrheit für die nächste Regierungsperiode erhalte. "Wir brauchen eine solide Mehrheit, um für Ordnung zu sorgen, sowohl außerhalb als auch innerhalb unserer Grenzen", betonte Macron.
In der ersten Runde der Wahl zur Nationalversammlung hatte das Mitte-Lager Ensemble des Präsidenten fast gleich viele Stimmen (25,8 Prozent) geholt wie das neue linke Bündnis (Nupes) aus Linkspartei, Sozialisten, Grünen und Kommunisten (25,7 Prozent) des Links-Politikers Jean-Luc Mélenchon. Der Vorsprung betrug gerade einmal gut 21.000 Stimmen.
Wegen des Mehrheitswahlrechts in Frankreich ist allerdings davon auszugehen, dass die Präsidentenpartei LREM mit ihren Verbündeten deutlich mehr Sitze bekommen wird als Nupes. Nach letzten Umfragen kann das Bündnis hinter Macron mit 255 bis 305 Mandaten rechnen. Nupes käme danach auf 140 bis 180 Sitze. Für die absolute Mehrheit sind 289 der insgesamt 577 Mandate im Parlament notwendig.
Absolute oder nur relative Mehrheit?
Somit ist fraglich, ob sich Macron weiter auf eine absolute Mehrheit wird stützen können. Sollten die Stimmen am Ende nur für eine relative Mehrheit reichen, wären der Präsident und die Regierung gezwungen, bei ihren Gesetzesvorhaben mehr Kompromisse zu schließen und andere Lager zu umwerben. Macrons Macht wäre dadurch erheblich geschmälert.
Und so warnte er im Vorfeld der Wahl: "Angesichts der klimatischen, wirtschaftlichen und sozialen Notlagen des Jahrhunderts und der Krisen, die unweigerlich auftreten werden, wäre nichts schlimmer, als wenn wir uns in Stillstand, Blockaden und Posen verlieren würden." Mit dem Linksbündnis drohten höhere Steuern, mehr Schulden und ein Schrumpfen der Wirtschaft. Er selbst strebe Vollbeschäftigung, Einkommenssteigerungen und einen Zuwachs an wirtschaftlicher Stärke an, sagte Macron.
Die Rechtspopulisten des Rassemblement National von Marine Le Pen können laut Umfragen damit rechnen, künftig eine Fraktion zu bilden. Dafür sind mindestens 15 Abgeordnete nötig.
Mit Spannung werden auch die Ergebnisse der 15 Regierungsmitglieder erwartet, die selbst bei der Parlamentswahl angetreten sind, darunter Premierministerin Elisabeth Borne. Falls sie ihre Wahlkreise nicht gewinnen sollten, müssen sie ihre Kabinettsposten räumen.
Eine Rolle könnte auch die Wahlbeteiligung spielen, die mit 47,5 Prozent in der ersten Runde extrem niedrig war. Mit Blick darauf appellierte Macron an die Nichtwähler. "Die Stunde der Entscheidung hat geschlagen, und die großen Entscheidungen werden niemals durch Enthaltung getroffen", so der Präsident.
se/gri (afp, rtr, dpa)